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Penibel. Eine Seite aus Kirchners Handexemplar mit Anmerkungen zur Abbildung von „Kranke Frau (Dame mit Hut)“, von Kirchner auf 1913 datiert, jedoch wohl erst später entstanden.

©  aus dem Begleitband

„Das Werk Ernst Ludwig Kirchners“ als Faksimile: Ich mal mir meine Welt, wie sie mir gefällt

Erstmals erschien es 1926. Jetzt gibt es das opulente Künstlerbuch Kirchners als Faksimile. Es zeigt, wie manisch er versuchte sich zum ersten deutschen Modernen zu stilisieren.

1926 erschien, verlegt von Kurt Wolff in München, „Das Werk Ernst Ludwig Kirchners von W Grohmann“, wie es auf dem Vorsatzpapier heißt, in Kirchners eigener, als Holzschnitt ausgeführter Schrifttype. Neunzig Jahre später liegt das Buch, ein opulentes und für die damalige Zeit verschwenderisch bebildertes Kunstbuch, als Faksimile-Ausgabe des gleichfalls in München ansässigen Verlags Hirmer vor. Es ist so etwas wie ein Abschiedsgeschenk der Herausgeberin und scheidenden Direktorin des Berliner Brücke-Museums, Magdalena M. Moeller, die ihr Amt nach 29 Jahren abgeben wird und auf Jahrzehnte der Zusammenarbeit mit dem Verlag zurückblicken kann.

Der Verfasser des dem nachtblauen Buch beigegebenen Erläuterungsbands, Günther Gercken, urteilt nüchtern, „dass ,Das Werk’ 90 Jahre nach Erscheinen seine Bedeutung als ersten Überblick über das Schaffen bis 1925 verloren hat“. Denn Kirchner gibt mit der von ihm selbst vorgenommenen Auswahl einen höchst subjektiven Eindruck. Gercken bemerkt, es ließen sich „an dem Buch schon alle Probleme aufzeigen, die sich bei der späteren kunsthistorischen Aufarbeitung vom Kirchners Werk ergeben haben: seine nachträglichen Frühdatierungen, die Übermalung älterer Bilder und die doppelseitig bemalten und gewendeten Gemälde.“ Gercken, als Autor des Gesamtverzeichnisses der Grafik Kirchners ausgewiesen, geht auf jedes einzelne der 100 abgebildeten Werke ein; lediglich vier davon in Farbe, 96 in Schwarz-Weiß, alle jedoch formatfüllend auf einer eigenen Seite. Hinzu kommen 26 Abbildungen von Zeichnungen im Einführungstext von Will Grohmann.

Falsche Datierungen und verschwiegene Übermalungen vonseiten Kirchners

Kirchner hatte sich die Entscheidung in allen Fragen vorbehalten und trieb den Verleger mit Änderungswünschen an den Rand seiner Kräfte. Die Auswahl stellt ein exaktes Gleichgewicht der deutschen und der Schweizer Jahre des Künstlers her, der 1917/18 nach längerem Sanatoriumsaufenthalt nach Davos übersiedelte. Freilich ist dieses Gleichgewicht dann doch keines, eben weil Kirchner zahlreiche ältere Bilder veränderte, seinem unterdessen gewonnenen, flächigen Stil anpasste und auch so veröffentlichte. Kirchners Anspruch, ganz allein über die Rezeption seines Werks zu bestimmen, hatte schon früher zu Zerwürfnissen wie mit den Kollegen der „Brücke“ geführt.

Mit dem jungen Dresdner Kunstpublizisten Will Grohmann, der im Jahr zuvor bereits „Kirchner – Zeichnungen“ veröffentlicht hatte, konnte der Künstler nach Belieben verfahren. Er hatte sich das Recht der Druckfreigabe ausbedungen. Grohmanns Einführungstext schrieb er erheblich um. So strich er die ganze Geschichte der „Brücke“ heraus, deren Einfluss er schlichtweg abstritt. Gercken weist minuziös nach, wie Formulierungen Eingang fanden, die Kirchner selbst in den fingierten Aufsätzen eines gewissen „Louis de Marsalle“ als unabhängige Meinung gestreut, tatsächlich aber selbst verfasst hatte. Grohmann blieb nichts weiter übrig, als Kirchners gönnerhaftem Rat zu folgen, „Sie können also beruhigt Ihren Namen darunter setzen“.

Das Hauptproblem des „Werk“-Buches ist freilich nicht der Text, es sind die falschen Datierungen und verschwiegenen Übermalungen. Kirchner, manisch darauf versessen, als erster deutscher Moderner zu gelten, setzt sein Frühwerk um Jahre zu früh an, auf 1902/08. Als Auftakt der chronologisch geordneten Tafeln wählt Kirchner den Holzschnitt „Zirkusreiterin“, der nach heutiger Kenntnis erst 1909 entstand. Sein tatsächliches Frühwerk lässt Kirchner weg – er zeigt stattdessen die reifen Dresdner und Berliner Jahre. Immerhin drei nachträglich veränderte Gemälde zeigt das Buch in der heute verlorenen Originalfassung; sie sind dafür im Kommentarband im Endzustand abgebildet.

Das Buch ist ein Kunstwerk eigenen Ranges

„Das Werk“ war ein Luxusprojekt. Als eine seiner „wichtigsten, bedeutungsvollsten und kostspieligsten Publikationen“ bezeichnete der Verleger Kurt Wolff das Buch dreißig Jahre später in einem Brief an Will Grohmann. Mit einer Auflage von 850 Exemplaren bei einem Preis von 120 Reichsmark war es nur für einen kleinen Kreis gutsituierter Kunstfreunde gedacht – und erschwinglich.

Genau als das aber ist es heute zu schätzen: Als ein vom Künstler als gültige (Selbst-)Darstellung bis ins Detail hinein komponiertes Kunstwerk. Die Faksimile-Ausgabe ruft in Erinnerung, was Buchkunst einmal war. Vom heutzutage allgegenwärtigen Farbdruck konnte Kirchner, der Mäzene für die Anfertigung der wenigen Farbabbildungen suchen musste, nicht einmal träumen. Sein Buch ist ein Kunstwerk eigenen Ranges.

Wenn man die vier Jahrzehnte der Kirchner-Renaissance seit der wegweisenden Retrospektive der (West-)Berliner Nationalgalerie im Jahr 1979 im Spiegel ihrer Publikationen überblickt, ist das Faksimile-„Werk“ wohl deren Krönung. Und ein Zugang zum Künstler, wie ihn – abgesehen von der vierbändigen Edition der Briefe im Jahr 2010 – authentischer keine der zahlreichen Ausstellungen je bieten konnte.

Will Grohmann: Das Werk Ernst Ludwig Kirchners. Neu herausgegeben von Magdalena M. Moeller. Hirmer Verlag, München 2017. 362 S. im Schuber. Wiss. Begleitband von Günther Gercken, 88 S. Zus. 298 €.

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