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Kultur: Ich will, dass die Musik direkt auf mich zukommt

Legende eines Labels: Das Jazzfest beginnt mit dem Dokumentarfilm „MPS – Jazzin’ The Black Forest“

Wie der Jazz in den Schwarzwald kam: in einer schweren Limousine, kurz nach Mitternacht. „Erst hob sich ein großer schwarzer Kopf aus der Autotür, dann kam der schwarze Körper, schließlich stand der ganze Oscar Peterson vor mir.“ So erinnert sich Hans Georg Brunner-Schwer an einen denkwürdigen Abend im Jahr 1961. Peterson, damals längst weltberühmt, hatte sich breitschlagen lassen, mit seinem Trio im Anschluss an ein Konzert in Zürich noch in das Städtchen Villingen zu fahren, zu einer Hausparty. Das Züricher Publikum verlangte Zugabe um Zugabe von dem Trio, unterdessen wurde der wartende Gastgeber immer nervöser. Im Dachgeschoss seines Hauses hatte Brunner-Schwer ein kleines Tonstudio installiert, mit dem er den Auftritt dokumentieren wollte. Als Peterson endlich vor dem Klavier im Wohnzimmer Platz genommen hatte, sagte er nach wenigen Akkorden: „Stop the machine!“ Um dann ein ultimatives Lob auszusprechen: „Hier klingt das Klavier, als ob ich direkt davor stünde.“

Hans Georg Brunner-Schwer, von Freunden und Verehrern gerne „HGBS“ genannt, war Jazz-Enthusiast, vor allem aber: Klavier-Fan. „Die Aufnahmen aus Amerika und England waren mir zu indirekt“, so hat er sein Klang-Credo beschrieben. „Ich wollte es so hören, wie es aus dem Klavier auf mich zukommt.“ Es ist eine irrwitzige Geschichte, die der Dokumentarfilm „Jazzin’ The Black Forest“ erzählt, mit dem das Berliner Jazzfest am Mittwoch eröffnet wird. Sie handelt von der Plattenfirma MPS, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren zum wichtigsten Aushängeschild der deutschen Jazzszene aufstieg. Die Abkürzung steht für „Musikproduktion Schwarzwald“, wurde in der Firmenwerbung aber gerne auch mit „Most Perfect Sound“ übersetzt. Der Film, den die Regisseurin Elke Baur in enger Zusammenarbeit mit der Familie Brunner-Schwer produziert hat, setzt dem Labelgründer ein Denkmal, der im Oktober 2004 im Alter von 77 Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.

Dichter Nebel liegt über dem Schwarzwald, wenn der Film beginnt. Auf die Trommelwirbel eines Fasnachtsumzugs in der schwäbischen Provinz folgt das magische Schallplattenknistern in der Wohnung eines Vinyl-Sammlers in einer norddeutschen Metropole. Eine MPS-Platte hat er auf einem Flohmarkt in Jakarta gekauft, das Album „The Sweetest Sound“ des Elsie Bianchi Trios, die „blaue Mauritius“ des Labels, musste er drei Jahre lang suchen. Die MPS-Platten sind bei Sammlern begehrt, vor allem, seitdem DJs in den Neunzigerjahren in den Aufnahmen von George Duke, Dave Pike oder Charly Antolini die Vorläufer eines äußerst tanzbaren Acidjazz und ideales Sampling-Material entdeckten. Das Berliner Musikkollektiv Jazzanova benannte sich nach einem Album des Gitarristen Ira Kris, das 1971 bei MPS erschienen ist.

Dabei war HGBS alles andere als ein Freund der Avantgarde. „Swing ist Leben“, lautete ein Wahlspruch. Sein Musikgeschmack war im Krieg geprägt worden, als er beim Abhören von Feindsendern auf den orchestralen Schmelz von Glenn Miller gestoßen war. Die Familie von Brunner-Schwer hatte seit Generationen Uhren gebaut, sein Großvater begann in den Zwanzigerjahren die Produktion von Radios und gab dem Betrieb den Namen Saba, eine Abkürzung für Schwarzwälder Apparatebau.

Eine der witzigsten Szenen des Films zeigt zwei alte Damen und einen alten Herrn, ehemalige Saba-Mitarbeiter, die ein handkoffergroßes Gerät ins Bild heben. „Hascht’n a noach Kaschetten?“, fragt der Herr. HGBS hatte 1954 die Firmenleitung übernommen und große Hoffnungen auf das „Sabamobil“ gesetzt, ein Tonbandgerät fürs Auto. Weil Musiklizenzen für die Tonbänder zu teuer sind, beschließt die Firma, selber Musik zu produzieren. Produktionen mit der Big Band des Südwestfunks entstehen, die ersten Schallplatten erscheinen unter dem Label Saba.

1968, die Entwicklung des Farbfernsehens hat Millionen verschlungen, ist die Elektronikfirma am Ende und wird von einem amerikanischen Konzern übernommen. HGBS, der selber Orgel, Akkordeon und Klavier spielt, macht sein Hobby zum Hauptberuf und gründet MPS. Saba/MPS veröffentlicht über 600 Alben, bis das Independent-Unternehmen 1983 vom Branchenriesen Polydor geschluckt wird. „Wenn es das MPS-Label nicht gegeben hätte, hätte man es erfinden müssen“, sagt der Posaunist Albert Mangelsdorff, der wie viele Protagonisten der aufblühenden deutschen Szene dort eine Heimstatt fand. Und Klarinettist Rolf Kühn lobt die Großzügigkeit des Firmenpatriarchen HGBS: „Wenn man ihm sagte: Ich will eine große Produktion machen, mit Orchester, fragte er : Wie teuer wird das? Wenn man dann entgegnete: Weiß nicht, entschied er: Mach mal.“

Im Rückblick fügt sich die MPS-Chronik aus lauter solchen Anekdoten zusammen. Wenn die Big Band von Kenny Clarke und Francy Boland anrückte, hockten die Musiker im engen MPS-Studio wie Sprotten nebeneinander. Wände mussten durchbrochen werden, um einen Boesendorfer-Flügel ins Studio zu wuchten, weil Friedrich Gulda vertraglich verpflichtet war, auf einem solchen Instrument zu spielen. Seine Gage ließ sich der Starpianist bar auszahlen, anschließend fuhr er im Taxi heim nach Wien. Die Trouvaille des Films sind aber die körnig-fehlfarbenen Schmalfilmaufnahmen von den Hauspartys bei HGBS. Herren in Bügelfaltenhosen und Damen mit Hochfrisuren stehen mit Cocktails vor Schrankwänden, während das Oscar Peterson Trio geschmeidig-entrückten Jazz spielt. „Es war absolut berauschend“, sagt Brunner-Schwers Sohn, der damals ein Kind war.

Mit einer Vorführung von „MPS – Jazzin’ The Black Forest“ beginnt am Mittwoch im Kino Delphi das Jazzfest, 20 Uhr. Ab 22.30 Uhr spielt im Quasimodo The New Save Pike Set. Programm unter www.jazzfest-berlin.de

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