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Idomeneo: Die Hülle der Pandora

Idomeneo hoch zwei: Das Münchner Cuvilliés-Theater wird mit Mozart und Roland Schimmelpfennig wiedereröffnet.

Da steht er, „unser“ Thomas Langhoff, Direktor der Sektion Darstellende Kunst an der Berliner Akademie der Künste, nestelt an einem roten Lederetui und macht auf der Bühne des Münchner CuvilliésTheaters eine ziemlich unmünchnerische Figur. Gerade wurde Roland Schimmelpfennigs „Idomeneus“ uraufgeführt, und in dem Etui ruht jene Tabakdose, die Karl Kraus 1905 dem damaligen Burgtheaterdirektor verehrte, anlässlich der Wiener Erstaufführung von Wedekinds „Büchse der Pandora“. Seither trägt die Tabatiere mit Stolz diesen furchteinflößenden Namen. Eine Wanderreliquie, für den jeweils „besten Theaterleiter und Regisseur“ bestimmt, die nun also dem Bayerischen Staatsintendanten Dieter Dorn gehören soll. Langhoff, mit Fünftagebart und hängender Hose, freut sich und liest flink vom Zettel ab. Dorn, der „Künstlerfreund“, freut sich auch und klappt das Etui nicht einmal auf.

Vielleicht hat er Angst, die Tabakdose könnte ihrem Namen Ehre machen und alle Schlechtigkeit der Welt über das wieder eröffnete Cuvilliés-Theater bringen, ja am Ende über ganz München und das schöne Land der Bayern. Ausgerechnet jetzt, da die Stadt draußen vor der Theatertür ein ganzes Wochenende lang mit einer Mischung aus Christkindlmarkt, Oktoberfest und Fanmeile ihren 850. Geburtstag feiert und selbst ein so trockener Typ wie Finanzminister Erwin Huber beim Festakt nicht müde wird, Bayern als „Kulturstaat durch und durch“ zu preisen und das Cuvilliés als „Bürgertheater“ und „harmonisches Gesamtkunstwerk“.

Rund 25 Millionen Euro hat der Freistaat sich die vierjährige Renovierung des Rokoko- Schatzkästleins kosten lassen, davon fünf Millionen aus privater Quelle. Die älteste Drehbühne der Welt dreht sich nun auf technisch neuestem Niveau, es gibt jede Menge aufgehübschtes Blattgold im Saal und schicke neue WCs. Über dem ehemaligen Zierhof (jetzt: Comitéhof, dem noblen Spendercomité eingedenk) wölbt sich sanft eine Glaskuppel, was die Foyersituation derart vergrößert, dass sich die maximal 523 Besucher darin fast verlieren. Erhebend, oben auf der Balustrade direkt unter den Rauten der Kuppel zu stehen, mal hinunter auf die emsigen Kunstflaneure zu blicken und mal direkt hinauf und hinein in die weißblaue Himmelsherrlichkeit.

Alles sehr schön und sehr gut also. Und lehrreich auch, möglicherweise, für Berlin, wie man hier denkmalschützerisch verfahren ist und diverse Elemente der letzten Instandsetzung von 1958 durchaus übernommen hat. Insgesamt vier Mal ist das Cuvilliés seit 1753 mehr oder weniger neu errichtet worden, an zwei unterschiedlichen Standorten innerhalb der Residenz. Dagegen mutet es wie eine Petitesse an, dass momentan keiner so genau weiß, was hier eigentlich gespielt werden soll. Ein bisschen Staatsopern-, ein bisschen Staatsschauspiel-Dependance (für heiß diskutierte 5000 Euro pro Abend, der Freistaat zahlt sozusagen Miete an sich selbst). Und der große klaffende Rest sind lukrative Fremdvermietungen (für 15 000 Euro, gerne auch kunstfrei) und Führungen? Erst die Form, dann der Inhalt – diese kulturpolitische Maxime gilt scheints nicht nur fürs Berliner Stadtschloss. Künstlerische Identität indes (so ruft es Klaus Zehelein als Präsident des Deutschen Bühnenvereins und der Bayerischen Theaterakademie herüber) dürfte so kaum zu haben sein. Und spätestens damit wären wir wieder bei Dieter Dorns Tabatiere: Offensichtlich hatte sich das eine oder andere Übel aus jener „Büchse“ bereits gelöst. Künstlerisch jedenfalls stand das Wiedereröffnungswochenende unter keinem sonderlich hellen Stern. So sinnfällig das Doppel aus Mozarts „Idomeneo“-Oper (die 1781 im Cuvilliés uraufgeführt wurde) und dem „Idomeneus“-Auftrag an den Dramatiker Schimmelpfennig auf Anhieb erscheinen mag, so wenig fruchtet es. Warum? Weil keiner der beiden Abende den Mut aufbringt, Leerstellen auszuhalten, ins Offene zu blicken – für das jeweils andere Genre und Potenzial, die andere Sprache; weil man sich voreinander versiegelt, selbstgefällig die alten Pfauenräder schlägt, Kunst machen will um jeden Preis; und weil ein konservatorischer Akt wie die Instandsetzung eines Theaters selten revolutionäre Geister weckt.

In beiden Fällen zeichnet Regisseur Dorn mit seinem Leibausstatter Jürgen Rose für die Realisierung verantwortlich – und allein das schließt Reibungsflächen, kreative Kanten so gut wie aus. Außerdem machen es sich die beiden in der Dualität ziemlich bequem: „Idomeneo“ spielt brav auf der Bühne und „Idomeneus“ im Saal. Man stellt das Prinzip, die Verabredung auf den Kopf, nicht mehr, nicht weniger. Mal (in der Oper) darf der Zuschauer konventionell Zuschauer sein und bleiben, mal (im Schauspiel als Vorspiel zur Oper, welches allerdings erst am Abend danach stattfindet) wird er selbst zum Objekt der Begierde, zum betrachteten Betrachter, genießt auf der Bühne sitzend 70 Minuten lang die Ansicht des rotgüldenen Saals, all die Putten und Lüsterchen und seidenen Tapetlein.

Was das mit der Geschichte zu tun hat, dem Mythos des Kreterkönigs Idomeneo? Herzlich wenig. Idomeneo, aus Troja heimkehrend, entkommt einem bösen Sturm, indem er dem Meeresgott ein Opfer verspricht: das erste Lebewesen, das ihm an Land begegnet. Dass dies sein Sohn Idamante ist, setzt das dramatisch-schicksalhafte Räderwerk in Gang – solange bis bei Mozart, ach, die Liebe siegt und die Götter ein Einsehen haben mit dem neuen Menschen(bild). Und bis bei Schimmelpfennig „ein Mann“ letzte, schönste Verse skandiert: „Das Leben./ Was für ein Geschenk./ Die Wellen./ Versprochen ist versprochen./ Ich bin Idomeneus,/ und ich hänge/ am Leben,/ ich hänge/ am Leben.“

Schimmelpfennigs Text hat zweifellos Kraft in seiner chorischen, radikal entindividualisierenden Anmutung – und Grazie. 14 Frauen und Männer nehmen sich seiner in wechselnden Ensembles an, von den Schauspielern verlangt dies eine enorme Musikalität und Konzentration (darunter Sibylle Canonica, Heide von Strombeck, Stefan Wilkening, Stefan Hunstein sowie Lisa Wagner und Felix Rech als großartige zweistimmige Chimäre).

Beim Lesen wünscht man sich eine unerbittliche, erratische Strenge – auch und gerade in den boulevardesken Szenen, wenn Idomeneos Gattin Meda es mit Nauplius treibt (oder eben nicht), wenn Idamante und Elektra sich in einer Jolle, der „roten Rosie“, aufs ägäische Meer hinausträumen. Von der Regie sieht man sich jedoch alsbald in ein Labyrinth aus Volkshochschule, Sprachlabor und Selbsterfahrungsgruppe entsandt. Die Vielschichtigkeit des Textes, seine permanente Rede in Entwürfen und deren Verwerfungen, das poetisch Ungefähre, all dies mündet je länger je ärgerlicher in erwartbare Choreografien (Parkett, Logen, Orchestergraben) und peinlich bemühte Verlebendigungen.

In der Oper tags zuvor wird der umgekehrte Weg beschritten. Es geht um Archaisches, sagt Dorn (und Rose umkleidet ihm dafür das leere, akustisch hoch problematische Bühnenhaus), um Affekte. Figuren fahren in die Grube, Erynnien geben ihnen Geleit, Ahnen winken mit blutig zerfetzten Leibern. Aber immer hübsch ästhetisch und in den lichten Farben des Südens. Die Botschaft am Ende? Weder Gewalt, Schuld, Opferfantasien oder Todesängste sind hier das Thema, nicht das, was Mozart in dieser Partitur als Aufruhr der menschlichen Seele gegen alle Seria-Konvention und -Verkrustung zu behaupten gewillt ist, sondern die Musik, die Geburt des Operngenius’ Wolfgang Amadé selbst. Also fährt das Orchester in den Nummern nach dem Schlusschor (einem Ballett mit eigener Köchelverzeichnis-Nummer) aus dem Graben hoch, während Ilia und Idamante als neues Herrscherpaar oben auf der Bühne erotische Verzückung proben.

Von der haarsträubenden Banalität dieser Lesart einmal abgesehen: Kaum ein Abend eignete sich wohl weniger, musikalisch so aufs Tablett gehoben zu werden. Die armen Sänger plagen sich mit der strohtrockenen Raumakustik und wirken teilweise regelrecht fehlbesetzt (Annette Dasch als klirrend knödelnde Elettra, Pavol Breslik als heftig forcierender und dennoch blasser Idamante, John Mark Ainsley als säuerlicher König). Einzig Juliane Banses Ilia hält einige lyrische Herzenstöne bereit, wird aber leider als indisponiert angesagt.

Und Kent Naganos Mozart mangelt es einmal mehr an Eleganz, Charme, Esprit. Eine Musik wie vom Reißbrett, da mag sich das Bayerische Staatsorchester noch so mühen: steif, stelzig, starr in ihren raschen, angsterfüllten Tempi und in den Übergängen knöchern. Hier züngeln dreieinhalb Stunden lang nur kalte Flammen. Und alle Wellen sind aus Wasser. Welche Tugend war es noch einmal, die als letzte in der Pandora-Büchse verblieb? Ach, richtig: die Hoffnung.

Christine Lemke-Matwey

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