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Kultur: Im Auge des Sturms

Die Diane Arbus-Retrospektive in Essen zeigt erstmals auch die Frau hinter der Kamera

In einem ihrer Notizbücher hat die Fotografin Diane Arbus 1959 einen Traum notiert, einen Albtraum zwar, doch einen sanften: Sie ist in einem riesigen weißen Hotel mit goldenen Aufzügen, und es brennt. Doch das Feuer verbreitet sich so langsam, dass keine Panik ausbricht, sondern die Gäste noch in aller Ruhe ihren Tätigkeiten nachgehen. Es ist wie die untergehende Titanic, schreibt Arbus, überall Rauch, wunderschön sieht das aus, und sie möchte unbedingt fotografieren, findet aber ihre Kamera nicht. Schrecklich allein habe sie sich gefühlt, so endet der Text: „Ich bin im Auge des Sturms.“

Fotografieren wollen und nicht können, im entscheidenden Moment die Kamera nicht dabei haben: ein gängiger Fotografenalbtraum. Im Fall von Diane Arbus jedoch ist es mehr: ein existenzielles, am Ende lebensbedrohliches Dilemma. Immer wieder hat die Künstlerin mit Fotoapparaten experimentiert, ist von der Graflex zur Rolleiflex gewechselt und später zur 35mm-Nikon, mit der sie ihr genuines Format gefunden hat: jene 35mm-Negative, die sie unbeschnitten als horizontales oder vertikales Rechteck verwendet. 1962 dann kehrt sie wieder zur Rolleiflex zurück, und macht das daraus resultierende quadratische Bildformat zu ihrem Markenzeichen.

Die Kameras sind nun im Essener Folkwang Museum zu sehen, in der herausragenden, schon in den USA stürmisch gefeierten Diane Arbus-Retrospektive „Revelations“. Gezeigt werden auch die Notizbücher und Briefe, die vom steten Kampf der Künstlerin um die rechte Form zeugen. Wie schwer es für Arbus zum Beispiel war, sich an einen neuen Apparat zu gewöhnen, zeigt ein Schreiben an den Kollegen Marvin Israel, in dem sie sich für eine geliehene Kamera bedankt. Es sei ein sehr feines, ja intellektuelles und aristokratisches Gerät, aber sie habe damit immer den Eindruck gehabt, als gebe sie nur vor zu fotografieren. Ihre alte Kamera hingegen sei „just a damn seductive liar“ gewesen, eine verfluchte Lügnerin, durch die man sieht, was man bekommen könnte – aber man kriegt es einfach nie.

Lüge und Wirklichkeit, das uralte Thema der Fotografie. Erst recht, wenn es eine Wirklichkeit ist, in der so viel Lüge steckt. Die Realität, die Diane Arbus einfängt, ist eine uramerikanische – und zugleich eine unamerikanische. Ihre Fotos, die sich fast ausschließlich auf Porträts beschränken, sind Gesellschaftsbilder: von einer Gesellschaft am Rand der Öffentlichkeit. Diane Arbus fotografiert in Nudistencamps und auf Jahrmärkten, in Altersheimen und Irrenanstalten. Sie fotografiert die aufgetakelte Lady auf der Fifth Avenue und die Drag Queens des New Yorker Nachtlebens, einen jugendlichen Pro-Krieg-Demonstranten mit einem „Bombardiert Hanoi!“-Sticker und ein Kind mit einer Handgranate. Und sie fotografiert Paare, immer wieder: das „Teenage Couple on Hudson Street“, er noch ein aus seiner Hose herausgewachsener Knirps. Oder den jungen Mann mit schwangerer Frau im Washington Square Park, sie mit toupiertem Haar und Schmetterlingsbrille, er ein junger, sehr junger Schwarzer, legt den Arm um sie und scheint doch gleichzeitig Schutz zu suchen. Und, noch krasser, „Two friends at home“: Eine große, korpulente Frau umarmt einen kleinen, schmächtigen Mann, und neben ihnen sieht man das zerwühlte Bett.

Längst sind diese Bilder Ikonen der Fotogeschichte: Bilder, die zur Interpretation einladen, vielleicht mehr, als der Künstlerin (und den Abgebildeten) lieb sein kann. Ein Problem, das auch die den Nachlass verwaltenden Töchter gesehen haben. Man habe sich irgendwann dagegen gewehrt, dass Diane Arbus’ Werk zum Schlachtfeld wilder Theorien und Interpretationen wurde, schreibt Doon Arbus und erklärt so, warum in früheren Bildbänden so wenige Informationen über die Fotografin selbst zu finden sind.

Diese Retrospektive, die man getrost zu einem der Höhepunkte des Kunstjahres zählen darf (Essen ist die einzige Deutschland-Station der Ausstellung!), schlägt einen neuen Weg ein. Nicht nur, dass sie die Arbeiten der Diane Arbus so umfassend zeigt wie noch nie zuvor. Sie zeigt auch die Vorbereitungen der Künstlerin, Kontaktabzüge, verworfene Bilder – und die Frau hinter der Kamera. In intimen Räumen, in Schnappschüssen, Zeugnissen und Briefen lernt der Besucher das wilde Kind Diane Nemerov kennen, das von seinen großbürgerlichen jüdischen Eltern mit französischer Erzieherin zum Sommerurlaub nach Frankreich geschickt wird. Man begegnet der Studentin, der Frischverliebten, der jungen Mutter, die erleichtert notiert, dass sie sich durch die Geburt nicht verändert fühlt. Später dann, nach der Scheidung von ihrem Mann Allan Arbus, trifft man auf die eifrige Korrespondentin, die gute Freundin ihrer beiden Töchter, mit denen sie bis zu ihrem Tod 1971in Briefkontakt steht.

Und man begegnet der skrupulösen Künstlerin, die wie einst August Sander ganze Serien plant, „Silver Spoon“ über die Kinder der Reichen, oder ein Guggenheim-Projekt über „amerikanische Riten, Gebräuche und Gewohnheiten“. Ein Foto von Richard Knapp aus dem Jahr 1957 zeigt sie auf Motivsuche im Zirkus. Die Kamera abgesetzt, beobachtet sie das Geschehen: konzentriert und gleichzeitig versonnen, etwas verzagt und sehr, sehr traurig. Ein wenig erinnert sie mit ihrer prominenten Nase an Virginia Woolf. Und wie die Schriftstellerin nimmt sie sich am Ende das Leben, mit 48 Jahren.

Nun wird der amerikanische Regisseur und Foto-Sammler Steven Shainberg das Leben der Diane Arbus verfilmen. Die Hauptrolle spielt die Virginia-Woolf-Darstellerin Nicole Kidman.

Diane Arbus. Revelations. Museum Folkwang, Essen, bis 18. September. Katalog (Schirmer Mosel) 49,80 Euro

Christina Tilmann

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