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Kultur: Im einfachen Leben finden wir die Seele

Der englische Historiker Orlando Figes erzählt in „Nataschas Tanz“ die Kulturgeschichte Russlands als Schicksalsepos

Als Auftakt hat Orlando Figes eine Szene aus Tolstois „Krieg und Frieden“ gewählt, in der das Verhältnis des westeuropäisch ausgerichteten russischen Adels zur bäuerlichen Kultur ihres Landes in ein einprägsames Bild gefasst wird: das von „Nataschas Tanz“, das Figes den Titel seines Buches gab. In dieser Szene wird eine untergründige, aber höchst wirkungsmächtige Kulturtradition beschworen, die die – von Zar Peter dem Großen um 1700 erzwungene – Westorientierung der schmalen Oberschicht als dünne Firnis erscheinen lässt. Figes will Russlands Nationalkultur auf die Spur kommen – und zerstört deren Mythos sofort, indem er darauf hinweist, dass viele ihrer Bestandteile aus anderen Kulturen importiert wurden, ja dass die vermeintliche Nationalkultur ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts darstellt.

„Alle großen kulturellen Bewegungen“, schreibt er, „drehten sich um diese fiktiven Bilder von Russlands nationaler Souveränität“. Figes nennt insbesondere die Slawophilen „mit ihrem Mythos von der ,russischen Seele’“, die „,Westler’ mit ihrem konkurrierenden Kult um St.Petersburg“, die „Volkstümler“, die „die Bauern als natürliche Sozialisten betrachteten“ und die „Skythen“, die „Russland als eine ,elementare’ Kultur aus der asiatischen Steppe ansahen“.

Figes’ neues Buch trägt mit Bedacht den Untertitel „Eine Kulturgeschichte Russlands“: eine, nicht die. Denn der englische Historiker knüpft an den Duktus seines 1998 erschienen, gefeierten Werkes „Die Tragödie eines Volkes“ an, das Geschichte als Epos erzählte. Auch jetzt greift er sich historische Figuren heraus, deren Schicksal die Geschichte der namenlosen Vielen spiegelt und verdichtet. Das hat den Vorzug einer bezwingenden Sprachgestaltung, aber den Nachteil der subjektiven Zuspitzung. So ist es unter anderem der Lebens- und Leidensweg der Dichterin Anna Achmatowa, die die Zeiten verklammert, lebt sie doch bis zu ihrem Tod 1966 in der „Fontanka“, dem Fontänenpalais der reichen Adelsfamilie Scheremetjew, mit der das Auftaktkapitel „Das europäische Russland“ über Bau und Bedeutung St.Petersburgs beginnt. Graf Scheremetjew war der erste Adelige, der eine Leibeigene heiratete.

Anna Achmatowa zog 1918 in den Fontänenpalast, doch „obwohl sie erst 29 Jahre alt war“, stammte sie „wie ihr neues Zuhause aus einer untergegangenen Welt.“ Es ist also die Zeit bis zum Epochenbruch der Oktoberrevolution, die den Fokus von Figes’ ungemein dichter Erzählung bildet. Demgegenüber erscheint die nachfolgende Epoche des Sowjetreiches allein als eine Ära von Zerstörung und Untergang. Sie spiegelt Figes im Schicksal berühmter Emigranten wie Nabokov oder Strawinsky. „In ihrer Isolation scharten sich die Emigranten um die Symbole der russischen Kultur, die ihnen als Konzentrationspunkt ihrer nationalen Identität dienten“, schreibt er im Schlusskapitel „Russland in der Fremde“: „Die Kultur war für sie das Einzige, was ihnen vom alten Russland geblieben war.“

In diesem Satz steckt der Grundtenor des Buches. Nach der Beinahe-Katastrophe von Napeleons Feldzug 1812 besinnen sich die Eliten des Riesenreiches auf ihre nationalen Wurzeln, in heutiger Begrifflichkeit: auf ihre Identität. So ist das 19. Jahrhundert eines der Identitäts-Konstruktion. Figes kreist um die Frage, wie das politisch zerrissene, sozial gespaltene, geografisch unbestimmte Russland trotz der „ungeheuren Vielfalt der kulturellen Erscheinungsformen“ zusammengehalten wurde und eine charakteristische Nationalkultur ausbilden konnte. Das eben macht die bei Tolstoi entliehene Szene des unbewussten, schlafwandlerisch stimmigen Tanzes einer jungen Adligen zu einer ihr unbekannten, bäuerischen Melodie zur Schlüsselszene: ob es ein verborgenes Band gab, das Adel und Bauern, hoch und niedrig einte?

„Was bedeutete es, Russe zu sein? Was war Russlands Ort und Bestimmung in der Welt? Und wo lag überhaupt das wahre Russland? In Europa oder Asien? In St.Petersburg oder Moskau?“ Auf diese Kernfragen kommt der Autor stets zurück. Es sind dies „die ,verfluchten Fragen’“, die jeden Künstler und Intellektuellen „im Goldenen Zeitalter der russischen Kultur von Puschkin bis Pasternak beschäftigten.“ Figes, der Geschichtsschreibung durchaus als Literatur betreibt, bezieht sich auf vielfältige literarische Quellen, von Tolstoi und Puschkin bis Achmatowa und Majakowski, und hat damit bereits den sichtbarsten Beleg für die These vom einigenden Band. Denn die russischen Dichter und Künstler suchen das spezifisch Russische stets im „einfachen Leben“, bis hin zur eigenen Anverwandlung, die einen gängigen Topos des 19. Jahrhunderts bildet.

Die bolschewistische Revolution fegte die Klassengegensätze des Zarenreiches hinweg. Fortan wurde das einfache Volk der Arbeiter und Bauern zur – zumindest nominell - herrschenden Schicht. Die Künstler, ob sie wollten oder nicht, lebten nun mitten unter dem früheren Objekt ihrer Neugierde, wie Anna Achmatowa in dem in überfüllte „Kommunalwohnungen“ unterteilten Adelspalais. Die eigentümliche Wendung, die die Frage nach der russischen Identität in der Sowjetunion nahm, vom anfänglichen Internationalismus des „Proletkult“ bis zur Oktroyierung des Großrussischen unter Stalin, behandelt der Autor jedoch eher distanziert.

„Es gibt keine einzig wahre Nationalkultur, allenfalls mythische Bilder von ihr, so wie eben Nataschas Version des Bauerntanzes“, bilanziert Figes – nicht, um diese Mythen zu „dekonstruieren“, sondern um ihre Wirkungsmacht herauszuarbeiten. Als Ergebnis erwartet den Leser eine ebenso mitreißende wie lehrreiche Lektüre.

Übrigens ist nicht einmal die Schachtelpuppe Matrjoschka ein Zeugnis uralter Bauernkultur: Sie wurde 1891 erfunden und sogleich als Folklore ausgegeben. Sie liefert ein vorzügliches Sinnbild für Orlando Figes’ faszinierende Suche nach der „russischen Seele“. An keinem Objekt, keiner Überlieferung lässt sie sich fassen, und doch steckt sie in allen der vom Autor so reich ausgebreiteten Erscheinungen einer spezifisch russischen Kultur.

Orlando Figes: Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands. A. d. Englischen von Sabine Baumann und Bernd Rullkötter. Berlin Verlag, Berlin 2003. 720 Seiten, 58 Abb., 39,80 €.

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