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Chance und Gefahr.

© imago/Xinhua

Das Unesco-Komitee tagt: Im Kollektiv der Leidenschaften

Weltkulturerbe als Politikum: China mobilisiert seine historischen Schätze und präsentiert sich als kulturelle Supermacht.

Glorreiches China! Stammsitz einer fünftausend Jahre alten Hochkultur! Dieses Mantra bekommen Besucher dort allenthalben zu hören. Der zivilisatorische Uradel soll alle westlichen Trümpfe ausstechen, etwaige Vorbehalte gleich mit.

Wobei geflissentlich unter den Tisch fällt, dass das Land seine kulturellen Errungenschaften wiederholt selbst zunichte gemacht hat, zuletzt während des Amoklaufs der infamerweise sogenannten „Kulturrevolution“. Nichts hat der chinesischen Kultur so geschadet wie die chinesische Politik – die sich heute gerne mit dem Erbe vergangener Zeiten schmückt.

47 Welterbestätten listet die Unesco im Reich der Mitte auf, mehr als für Russland und Japan zusammen. Nur Italien kann da mithalten. Zwar schickt China für die an diesem Sonntag beginnende Sitzung des Komitees nur einen Kandidaten ins Rennen, die Stätten des Tusi-Systems, der Vasallenherrschaft über verschiedene Bergvölker des Südens. Doch in den nächsten Jahren dürfte es sich an die Spitze der Kultur-Hitparade setzen: Auf seiner Vorschlagsliste warten weitere 54 Stätten!

Im Rahmen dieser Generaloffensive wurden in den letzten 15 Jahren viele Sehenswürdigkeiten und Welterbestätten aufgemöbelt, von der Großen Mauer über den Potala-Palast und die Gärten Suzhous bis zur kolonialen Altstadt von Macao. Wobei die Runderneuerung meist auf jene Art geschieht, der es weniger um historische Authentizität geht als um die Erfüllung gegenwärtiger Erwartungen. Zum Beispiel Datong, fünf Fahrstunden westlich von Peking. Die Stadt soll eine neue Altstadt bekommen, in China kein Paradox, sondern Usus. Datong besitzt längst keine Altstadt mehr, dafür hat „der große Sprung nach vorn“ gesorgt. Nun versucht man einen kleinen Sprung zurück. Die historische Stadtmauer, ein krümelnder Lehmwall, wurde durch eine Ziegelmauer mitsamt Wehrtürmen und Parkanlagen ersetzt. Dass Datong ein derart luxuriöses Bollwerk niemals hatte, spielt keine Rolle – Hauptsache, es macht viel her.

Das Unesco-Gütesiegel lässt in Friedenszeiten den Massentourismus auf ein Maß anschwellen, das die Substanz gefährdet

Nostalgie ist dem chinesischen Denken fremd; Entwickeln geht vor Bewahren. Denkmalschutz ist dann von Nutzen, wenn er etwa Touristen anzieht, aber dafür genügt eine Raubkopie vergangener Zeiten. Ein minuziös geplantes, vieltausendteiliges Puzzle wie die Dresdner Frauenkirche wäre hier undenkbar, schon weil ungeduldige Häuptlinge ständig dazwischenfunken würden. Wobei Datong tatsächlich über ein Vermächtnis von Weltrang verfügt: die Yungang-Grotten. In lehmigen Klippen westlich der Stadt thronen bis zu 18 Meter hohe Buddhastatuen. Sie entstanden um das Jahr 500; fast noch Antike also. Hunderte Höhlen und Felsnischen reihen sich aneinander, mit zahllosen Statuetten, zu deren Füßen Kerzen, Blumen, Räucherstäbchen drapiert sind.

Vor 400 Jahren wurden hölzerne Baldachine über einige Figuren errichtet; der Denkmalschutz kann also auf eine lange Tradition zurückblicken. 2001 wurde die Stätte in die Weltkulturerbe-Liste aufgenommen. Doch mittlerweile krankt sie am eigenen Erfolg. 700 000 Besucher im Jahr drohen die empfindlichen Höhlenmalereien in Mitleidenschaft zu ziehen.

Das begehrte Unesco-Gütesiegel kann auch einen gegenteiligen Effekt haben. In Friedenszeiten lässt es den Massentourismus auf ein Maß anschwellen, das die Substanz gefährdet, weshalb etwa für die Steinzeithöhle von Lascaux oder im ägyptischen Tal der Könige Nachbauten geschaffen wurden. In Kriegszeiten reizt es den Gegner dazu, ein kostbares Symbol des Feindes aufs Korn zu nehmen, um ihn zu demoralisieren – wie die Welt es jetzt in Mesopotamien mitansehen muss (siehe Kasten). Auch das afghanische Bamiyan besaß den Welterbestatus, als die Taliban als Vollstrecker einer islamischen „Kulturrevolution“ die Buddhastatuen mit Raketenwerfern kurz und klein schossen. Und kroatische Milizen pulverisierten eine der schönsten Steinbrücken Europas, die den Bewohnern von Mostar über Jahrhunderte hinweg treue Dienste geleistet hatte.

Zwar heißt es in der Gründungserklärung der UN-Organisation: „Jede Schädigung von Kulturgut, gleichgültig welchem Volke es gehört, bedeutet eine Schädigung des Erbes der ganzen Menschheit.“ Doch im Ernstfall erweist sie sich als Papiertiger, verfügt sie doch weder über Gebietshoheit noch über Sanktionsmöglichkeiten. Auch ist sie keine Kulturinstitution, sondern ein politisches Gremium. Abgesehen von Posten und Pfründen für Funktionäre beschränkt sich ihr Nutzen vornehmlich auf ideelles Gebiet.

Noch stärker schlagen Minderheiten zu Buche, uigurische Volksmusik, Lieder südlicher Bergvölker, koreanische Bauerntänze.

Noch deutlicher wird dies beim immateriellen Kulturerbe. Die Kategorie, die Tänze, Gesänge und andere Bräuche umfasst, wurde als Gegengewicht zu den meist steinernen Baudenkmälern geschaffen, bei denen der Westen lange vorne lag. Mit 30 Einträgen führt China diese Liste an. Noch stärker als die han-chinesische Mehrheit schlagen hier die zahlreichen Minderheiten zu Buche, mit uigurischer Volksmusik, den Liedern südlicher Bergvölker und koreanischen Bauerntänzen.

Ein reizvolles Exempel bildet die Epik. Zwar kennt China selbst eine reiche Tradition des Geschichtenerzählens, aber kein zentrales Heldengedicht. Was schon Hegel nicht entging: „Die Chinesen besitzen kein nationales Epos“, konstatierte er in seiner „Ästhetik“. „Wenn der prosaische Grundzug ihrer Anschauung sowie die für eigentliche Kunstgestaltung unzulänglichen religiösen Vorstellungen setzen sich dieser höchsten epischen Gattung als unübersteigbares Hindernis in den Weg.“

Vermutlich würde sich kein Staat der Welt darum scheren, was ein schwäbischer Denker vor 180 Jahren zu befinden geruhte. Die Chinesen aber wurmte das Diktum, um so mehr, als es von Marxens philosophischem Lehrmeister stammt. Sie wollten die Scharte auswetzen, aber wie? Schließlich weiß alle Welt, dass es aussichtslos ist, einem deutschen Gelehrten widersprechen zu wollen.

Wie praktisch, dass etliche Minderheiten über reiche epische Traditionen verfügen, von den sibirischen Ewenken über die Mongolen bis zu den Bergvölkern in Hunan. Die Krone gebührt den Tibetern. Was die Chinesische Mauer für die Baumeister, ist das Epos von „König Gesar“ für die Geschichtenerzähler: das Nonplusultra. Es hat etwa die 20-fache Länge der „Ilias“, der komplette Vortrag würde über eine Woche dauern. Dennoch gibt es Naturtalente, die das Ruhmeslied auswendig können; manche sind Analphabeten. Seine Ursprünge reichen in die schamanische Frühzeit zurück; Philologen haben diesen epischen Kosmos in einem Großprojekt umfassend dokumentiert. Auch wenn die tibetische Saga nun bisweilen als „chinesischer Gesar“ präsentiert wird – der Dichtung wie den Philologen kann staatliche Anerkennung nur recht sein.

Warum strengt das Land sich gerade jetzt an, als Kulturmacht gesehen zu werden? Der Kommunismus ist als Leitideologie erledigt, der Nationalismus dagegen feiert fröhliche Urstände. Versteht man Propaganda als Kollektivierung der Leidenschaften, so kann die Beschwörung kultureller Glanzleistungen die Affekte in die gewünschte Richtung lenken. Und so mischt Chinas multikulturelle Nationalmannschaft im Medaillenspiegel ganz vorne mit. Mit jeder Sitzung des Welterbekomitees wird es an Gewicht zulegen. Schließlich kann es aus dem Vollen schöpfen: Die zusätzlich geführte nationale Liste des immateriellen Kulturerbes umfasst mehr als tausend Einträge.

Stefan Schomann

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