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Warlam Schalamows Kolyma-Erzählungen: Im Norden der Seele

Warlam Schalamows erschütternde Erzählungen aus Kolyma liegen nun auf Deutsch vollständig vor.

Es genügt ein Satzende wie dieses: „Und ich trat hinaus auf die Straße in den grauen Regen von Magadan“ – und man begreift, wofür der Name dieser Siedlung steht. Für Warlam Schalamow war Magadan 14 Jahre lang der Mittelpunkt seiner Welt, der Welt des nördlichen Gulag. Über diesen Höllenkosmos hat Schalamow (1907–1982) insgesamt 155 Erzählungen verfasst, die als „Erzählungen aus Kolyma“ in Russland erst in den achtziger Jahren im Samisdat teilveröffentlicht werden konnten, seit 2004 vollständig vorliegen und mit dem Erscheinen des vierten Bandes „Die Auferweckung der Lärche“ nun auch in der deutschen Übersetzung von Gabriele Leupold abgeschlossen sind.

Die verlegerische Großtat des von Franziska Thun-Hohenstein herausgegebenen Werks ist von der Kritik schon ausführlich gewürdigt worden. Gleichwohl bleibt zu betonen, dass der vierte Band tatsächlich den Abschluss von Schalamows insgesamt knapp 20-jährigem Lager- und Verbannungsdasein darstellt. Es gibt kein Happy End, sondern nur das „Hinaustreten“. Ihm korrespondiert in gleicher Knappheit der Schlusssatz des Buches. Die letzte, 1972 verfasste Erzählung endet mit dem scheinbar zusammenhanglos angefügten Satz: „Drei Monate später war ich in Moskau.“

Es hat sich eingebürgert, Warlam Schalamow literarisch höher einzustufen als Alexander Solschenizyn. Der spätere Nobelpreisträger hatte mit der Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, Ende 1962 in „Nowyi Mir“ veröffentlicht, das lähmende Schweigen gebrochen, das die Existenz des sowjetischen Gulag jahrzehntelang verhüllt hatte, und das mit der allmählichen Freilassung von drei Millionen Lagerinsassen nach Stalins Tod im März 1953 nicht zu Ende war. Schalamow musste weiterhin schweigen.

Wie es um diese Amnestie – ausgerechnet auf Initiative des NKWD-Chefs Berija – für ihn selbst bestellt war, hat Schalamow, 1937 erstmals verurteilt und durch eine weitere Strafzumessung von 1943 bis 1956 im Norden festgehalten, so erlebt: „Befreit wurde der gesamte Artikel 58 – alle Punkte, Teile und Paragraphen – mit einer Haftdauer bis zu fünf Jahren. Nach Artikel 58 gab man fünf Jahre nur im Morgendämmer des Jahres siebenunddreißig. Diese Leute waren entweder gestorben oder freigelassen oder hatten eine zusätzliche Haftzeit erhalten.“

Paragraph 58, das ist der berüchtigte Gummiparagraph des Stalin’schen Strafgesetzbuches, mit dem alles und jedes zur „konterrevolutionären“ Straftat erklärt werden konnte – was Millionen von Opfern zu spüren bekamen. Es betraf „Volksfeinde“, also alle tatsächlichen, potenziellen oder eingebildeten politischen Gegner. Hingegen wurden alle Kriminellen „nach der Berija-Amnestie ,komplett‘ mit Zuerkennung aller Rechte freigelassen. In ihnen sah die Regierung wahre Freunde, eine Stütze.“

Im Lager zählte nur der einzelne Tag, und jeder Tag war im Grunde gleich: „Der Hunger ließ nie nach, und nichts kann sich mit dem Gefühl des Hungers, des nagenden Hungers vergleichen – dem Dauerzustand des Lagerhäftlings.“ Doch nachdem er die Unterdrückung und Austreibung aller menschlichen Grundbedürfnisse im Lager beschrieben hat, formuliert Schalamow etwas gänzlich Unerwartetes: „Das fünfte Bedürfnis ist das Verlangen nach Gedichten.“

„Die Stunde des Gedichtelesens. Eine Stunde der Rückkehr in eine Zauberwelt. Wir sind alle bewegt.“ Daraus könnte nun ein Lobpreis der Dichtkunst werden, gar ein Sieg der Poesie über die Gewalt – aber nicht bei Schalamow, der an dieser Stelle einen Vorgesetzten eingreifen lässt: „Herr unserer Seelen, Herzen und Körper“. Dieser macht dem Gedichterezitieren ein Ende. Später, viel später geht der Autor mit einem neuen Häftling am Raum der insgeheim „Attische Nächte“ genannten Gedichtlesungen vorbei, und der Neue sagt: „,Das ist doch der Verbandsraum, in dem eure Attischen Nächte stattfanden? Dort, sagt man, gab es...‘ – ,Ja‘, sagte ich, ,eben der‘.“

Es ist diese lakonische Kürze, die auch nur den leisesten Anflug von Pathos beiseitewischt, die das Lagerleben in einer Weise skizziert, wie man es von außerhalb allenfalls erahnen kann. Die Lakonie ist das einzige Mittel, das nicht Darstellbare darzustellen. Das Unfassbare – das ist das Lagerleben, sind Schinderei und Sterben, vor allem aber die Entmenschlichung, die Reduktion auf die nackteste Existenz, an deren Rand diejenigen taumeln, die man im Lager als „Docht“ bezeichnet, dochodjaga, dem Tod näher als dem Leben. Gerade in der Lakonie tritt der Schrecken zutage. So, wenn Schalamow beschreibt, wie ein Häftling erschossen wird, weil er beim Gang auf die Latrine keinen Stuhlgang hat – „bei minus 50 Grad“ – und nun als „Saboteur“ denunziert wird, auch von den Mithäftlingen.

Schalamow hat überlebt, durch Zufälle, durch Zähigkeit, aber er ist seines Lebens kaum mehr froh geworden. „Das Lager hat alle meine Vorsätze zunichte gemacht. Der Norden verstümmelte, verarmte, verengte, verunstaltete meine Kunst und hinterließ in der Seele großen Zorn, dem ich mit den Überresten meiner schwächer werdenden Kräfte diene“, schrieb er 1964 über die zerschundene Hoffnung seiner Jugend, ein Dichter zu werden. „Das Lager an der Kolyma ist (wie jedes Lager) eine negative Schule von der ersten bis zur letzten Stunde.“ Dass er die Veröffentlichung seiner Erzählungen nicht mehr hat erleben können und schon gar nicht die enorme Resonanz, die seine erschütternden Bücher gefunden haben, ist eine zusätzliche, bittere Facette seiner Lebensgeschichte.

Umso wichtiger ist es, die Erinnerung an die Hölle des Gulag zu bewahren, wie sie Warlam Schalamow in seiner Moskauer Wohnung zwischen 1956 und der erzwungenen Einlieferung in ein Altersheim 1979 niedergeschrieben hat – zum „Aufbewahren für alle Zeit!“, wie die Aktendeckel zu Vergehen nach Paragraf 58 in der Stalinzeit bestempelt wurden.

Warlam Schalamow: Die Auferweckung der Lärche.

Erzählungen aus

Kolyma 4. Aus dem

Russischen von

Gabriele Leupold. Matthes & Seitz, Berlin 2011. 664 S., 29,90 €.

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