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Kultur: Im Rausch der Tiefe

Documenta-Macher Roger Buergel über Lernprozesse, Lustgewinn und Ignoranz im Kunstbetrieb

Herr Buergel, in Venedig gehen Sie erklärtermaßen lieber in Kirchen und die Accademia als auf die Biennale. Wofür in der Kunst lohnt es sich nach Berlin zu kommen?

Berlin ist ein Laboratorium. Hier haben viele gute Künstler ihre Ateliers, was institutionell aber nicht abgebildet wird. Das führt zu einem idyllischen Dasein: Künstler fühlen sich weniger gestresst, weil sie von den Institutionen nicht gefordert werden. Ich spüre bei vielen Künstlern eine große Lust, der Industrie den Rücken zu kehren. Trotzdem müssen sie sich auch ernähren. In Berlin ist das alles etwas unentschieden.

Und die letzte Berlin-Biennale? Gab es dort Künstler oder Themen, die auch für Ihre Documenta eine Rolle spielen?

Ich bin da gespalten. Natürlich muss ich mir als Funktionär so eine Biennale ansehen. Grundsätzlich halte ich es für problematisch, mit historischem Kapital hausieren zu gehen, wie es in der Jüdischen Mädchenschule geschehen ist. Aber für Berlin hat die Biennale gut funktioniert, weil sie wieder einen spielerischen Umgang mit Kunst eingeführt hat.

Steckt dahinter nicht eine Tendenz weg von der Theorie, hin zu mehr Sinnlichkeit?

Ich glaube, das mit der Theoriefeindlichkeit gegenwärtig stimmt so nicht. Der Begriff „Theorie“ leitet sich schließlich von „Schauen“ ab. Trotzdem gibt es Kuratoren, die mit theoretischen Begriffen instrumentell umgehen und dadurch Erfahrungen abwürgen. Aber man muss sich an Kunst auch abarbeiten, sich anstrengen, seine intellektuelle Trägheit überwinden und wird nicht sofort belohnt.

Sie haben dafür das Bild des Schwimmens geprägt: Erst geht es leicht, dann wird es anstrengend, und ab einem gewissen Punkt schwimmt man wie im Rausch. Wie wird es auf der Documenta sein?

Es gibt nur wenige Gelegenheiten, wo sich viele Menschen in einer gewissen räumlichen Situation aufeinander einlassen müssen. In Fußballstadien zum Beispiel ist die dramaturgische Richtung sehr beschränkt. Dagegen ist eine Ausstellung als affektiver Raum einfach einzigartig. Und so wollen wir auch Kassel begreifen.

Was macht die Documenta so besonders, verglichen mit den unzähligen Biennalen?

Die Documenta ist ein deutscher Bildungsmythos. Dahin gehen Leute, die sich sonst nie Gegenwartskunst ansehen. Diese Besucher brauchen tatsächlich die Vorstellung, dass Gegenwartskunst sich nicht nur an ein Fachpublikum richtet, sondern mit Fragen arbeitet, die alle betreffen.

Sie beziehen sich gern auf die erste Documenta von 1955. Warum?

Mich interessiert an der ersten Documenta ihre Ungeschütztheit. Damals waren der Schmerz, die Katastrophe noch präsent. Diese Documenta war eine ungeschützte Begegnung mit der Moderne. In diesem Moment muss etwas übergesprungen sein. Heute hat man eher ein müdes Publikum, das den letzten Kick haben will, aber im Grunde zu Tode gelangweilt ist. Ein Dekadenzphänomen. Die naive Aufgeregtheit von damals ist heute nicht mehr vorstellbar. Und doch muss man wieder da hinkommen.

Kunst ist heute ein Massenphänomen: Der Kunstmarkt boomt, die Besucherzahlen der Documenta erreichen jedes Mal neue Rekorde. Was wollen Sie dem Besucher vermitteln?

Es ist wichtig, die Unvertrautheit mit Kunst herauszuarbeiten, jene Momente, die eben nicht ins Leben passen. Das ist in dem Moment, in dem Kunst ein Massenmedium wird, relativ einfach. Allerdings bringt das große Publikum wenige Voraussetzungen mit. Es fehlen vor allem historische Kenntnisse. Gleichzeitig sind die Leute gutwillig und interessiert.

Funktioniert Gegenwartskunst ohne Erklärung überhaupt? Wie vermittelt man historische Vorbilder, ohne ein Proseminar abzuhalten?

Dafür gibt es kein Rezept. Das funktioniert selten kausal, nach dem Motto: Erst kam Caspar David Friedrich, dann Andreas Siekmann. Es geht darum, Beziehungen aufzuzeigen. Manchmal läuft es über die Widerstände, die gegenüber moderner Kunst bestehen. Auch damit sind Energien verbunden, die man verwandeln kann.

Nun ist das Publikum in Kassel Kunst gewohnt. Begegnet Ihnen hier mehr Kunstverständnis als in anderen Städten?

Kassel ist alle fünf Jahre eine glückliche Verbindung zwischen Kleinstadt und großer Ausstellung. Aber das Verhältnis muss immer wieder neu aufgebaut werden. Immer wieder erzählen mir die Menschen, dass am ersten Documenta-Wochenende in Kassel kein Brot, keine Nudeln, keine Milch zu kaufen sind. Das ist jedes Mal wie der Einbruch des Realen. Zwar ist man daran gewöhnt, dass die Documenta alle fünf Jahre stattfindet, aber sie kommt jedes Mal mit neuen Zumutungen. Als Kurator arbeite ich wie ein Psychoanalytiker: Man hört sich an, was die Leute wollen, aber gibt ihnen am Ende nicht das, was sie sagen, dass sie es wollen, sondern das, von dem er meint, was sie wirklich wollen.

Gegenwärtig entzünden sich die Widerstände vor allem an dem Glaspavillon, den Sie in die Karlsaue bauen lassen. Warum?

Anders als in Venedig mit einem festen Aufbauteam muss man bei der Documenta immer wieder neu beginnen. Das ist prekär, vor allem, wenn die zivilgesellschaftlichen Einbindungen fehlt. Das haben wir gerade bei der Finanzierung des neuen Gebäudes gemerkt. Obwohl Sponsoren abgesprungen waren, mussten wir mit dem Bau beginnen. Ende April wäre es zu spät; dann würde das Gebäude nicht mehr rechtzeitig fertig werden. Dafür gibt es historische Vorbilder: Keine Kathedrale wäre gebaut worden, wenn die Finanzierung zu Baubeginn hätte stehen müssen.

Der Konflikt passt zum Walter Benjamin und Giorgio Agamben entlehnten Motto „Bloßes Leben“, das sie unter anderem der Documenta XII gegeben haben. Was meinen Sie damit genau?

Dieses Thema geht alle an, die gesamte deutsche Mittelschicht, die vom sozialen Absturz oder Abgleiten bedroht ist und sich der Auseinandersetzung nicht stellt. Alter, Tod, Krankheit, Kindererziehung – alle diese Themen konfrontieren mit Unsicherheit. Aber die Menschen denken lieber an Favelas, Palästinenserlager, Kindersoldaten im Kongo, Prostituierte in Bombay. All das darf sein, aber bitte nicht Arbeitslosigkeit in Kassel. Hier kommt die Ausstellung im ganz emphatischen Sinn zu ihrem Recht: Sie affiziert den Gesellschaftskörper.

Halten Sie also den Weg Ihres Vorgängers Okwui Enwezor für falsch, die Kunstwelt zu dezentralisieren und stärker auf andere Regionen zu achten?

Wir müssen beides machen. Auch das Lokale lässt sich exotisieren, wie Thomas Hirschhorn mit seiner Installation bei der letzten Documenta gezeigt hat. Man kann auch die Jugendlichen in der Nordstadt von Kassel zu Bantus machen. Dann pilgern die Leute dorthin und sehen sich an, wie es in dem Problembezirk zugeht. Diese teuflische Dialektik hat nichts mehr mit realer geografischer Distanz zu tun. Aber man muss den Europäern und Nordamerikanern schon zeigen, was woanders los ist, vor allem in seiner historischen Tiefe. Die in der Kunstwelt zirkulierenden Versionen von Afrika oder Indien sind bessere Parodien. Das regionale Denken in der Kunstwelt ist eine Perversion: erst Afrika, dann der Balkan, jetzt China und dann Indien – das ist ein Erbe des 19. Jahrhunderts und dem Ästhetischen eigentlich sehr fremd.

Auch in Ihrer Gedankenwelt steckt 19. Jahrhundert: Sie beziehen sich auf die Romantik, Psychoanalyse. Was hat Sie geprägt?

Ich habe ein enges Verhältnis zur Frühromantik. Aber ich habe vor allem auch auf meinen Reisen viel gelernt. Das lässt sich nicht als theoretisches Erbe angeben, aber diese Erfahrungen, die Gespräche mit den Menschen vor Ort haben mich existenziell verändert. Man darf allerdings dazu nicht von Fünfsternehotel zu Fünfsternehotel reisen und die Künstler mit ihren Portfolios vorsprechen lassen. Das Gespräch führten Nicola Kuhn und Christina Tilmann.

DER MACHER

Der gebürtige Berliner mit Wohnsitz Wien war bei seiner Berufung vor vier Jahren ein Überraschungskandidat. Bislang nur als Herausgeber der Kunstzeitschrift Springerin und Kurator kleinerer Ausstellungen hervorgetreten, war der 44-Jährige für viele zunächst ein unbeschriebenes Blatt. Wie seine Vorgänger hat Buergel, der die Documenta gemeinsam mit seiner Partnerin Ruth Noack leitet, bislang keine Künstlernamen genannt, aber eine stärkere Anbindung an soziale und politische Kontexte versprochen.

DIE AUSSTELLUNG

Die international wichtigste Schau zeitgenössischer Kunst findet alle fünf Jahre in Kassel statt. Sie wird am 16. Juni eröffnet und dauert bis 23. September. ( www.documenta.de )

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