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Kultur: Im Riesengebirge der Wörter

Kabinettstückwerker und Sprachgymnastiker: Wer beim Klagenfurter Literaturwettbewerb ankommt

Wie überall ist auch in Klagenfurts Stadtzentrum, dem Neuen Platz, dieser Tage eine unausweichliche Fußball-Leinwand aufgebaut. Bei Puntigamer-Bier oder „Spritzer“, der österreichischen Variante der Weißweinschorle, beobachten die Kärntner aus einer gewissen historischen Reserve heraus das siegreiche Treiben der schwarz-weiß gekleideten Piefkes. Dabei gerät das eigentliche Kraftzentrum daneben leicht aus dem Blick: Auge in Auge stehen da der Lindwurm, Klagenfurts Wahrzeichen, und ein Denkmal der Kaiserin Maria Theresia. Patinagrün fixieren sie sich von ihren Sockeln herab: naturwüchsige Zähne und Krallen kontra imperiale Leibesfülle im Reifrock.

Ein Gleichgewicht des Schreckens, das Stabilität und Stillstand erzeugt und möglicherweise auch als geheime Kraftquelle für den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb fungiert. Als Musenwettstreit in der Nachfolge der Gruppe 47 seit seiner Gründung 1977 immer wieder in Frage gestellt und für tot erklärt, präsentierte sich die Veranstaltung im Jubiläumsjahr stabiler denn je, aber auch mit chronischer Beißhemmung. Würde man in seinem dreißigsten Jahr aufhören, den „Bewerb“ jung zu nennen? Ingeborg Bachmann, die gestern achtzig geworden wäre, hat in ihrem Erzählungsband „Das dreißigste Jahr“ 1961 diese oft zitierte Frage selbst gestellt. Die Jury-Vorsitzende Iris Radisch attestierte den „TDDL“ (Tage der deutschsprachigen Literatur) in ihrem Schlusswort eine „reife und halbwegs unneurotische Erwachsenenbiografie“. Diese „weltweit einmalige Veranstaltung“ gelte es „lebhaft und lebendig“ zu verteidigen, was nicht zuletzt ihr eigenes Temperament garantiert. „80/30“ (80 Jahre Bachmann, 30 Jahre Wettbewerb) – dieses zweite Kürzel prangte auf den Holzkisten, an denen die neun Juroren im Wüsten-Bühnenbild von Heinz Peter Maya ihre Urteile fällten. Hinter ihren Köpfen prangte aparterweise ein arabischer Schriftzug, die Übersetzung des Bachmann Zitats „Meine Geschichte und die Geschichte aller ... Wie kommt das zusammen?“.

Der Schweizer Literaturkritiker Andreas Isenschmid, der als Co-Moderator wirkte, meinte, Klagenfurt werde als Jahreskongress zum Zustand der deutschen Literatur missverstanden. Die Jury war nur mit zwei Wahl-Schweizern bestückt, Ilma Rakusa und Martin Ebel. Das war nicht nur klanglich schade, sondern ließ einen neutralen Ausgleich zur „Österreich-Preußen-Front“ (für Wien fochten Daniela Strigl und Klaus Nüchtern) vermissen. Der Klagenfurt-erprobte Raoul Schrott formulierte in seiner Eröffnungsrede „30 Paradoxa“. Dem letztjährigen Siegertext von Thomas Lang attestierte er das Niveau einer Schülerzeitung, wie er den Diskursverlust beklagte, der „den Homo ludens für das Maß aller Dinge hält und Oberflächeneffekte für Differenzierungen von Tiefe“. Dabei sei die Literatur „der einzige Sprachfilter, über den wir verfügen: Was sonst klärt das Trübe unserer Begrifflichkeiten?“.

In ihrem selbstgestalteten Filmporträt brachte Kathrin Passig das mediale Dilemma und den gleichzeitigen Reiz des Bachmann-Wettbewerbs auf den Punkt. Die taz-Kolumnistin, Web-Entwicklerin und Geschäftführerin einer „Zentralen Intelligenz Agentur“ ist in ihrer Wohnung in Neukölln („Kathrin Passig geht dahin, wo es wehtut“) am Computer zu sehen. „Jeder Anschlag ein Anschlag auf das Nichts“, erläutert eine sonore Stimme aus dem Off, während auf dem Bildschirm erscheint: „Ich schreibe, damit man meine Finger beim Tippen filmen kann.“ 1970 im niederbayerischen Deggendorf geboren, kam Kathrin Passig mit Anfang zwanzig nach Berlin. Unter anderem legte sie mit „Qual der Wahl“ ein kurzweiliges Vademecum des Sadomasochismus vor. Ihre Lesung als vorvorletzte von 18 Autoren sorgte für die klassische Klagenfurter Samstags-Euphorie, für großen Applaus und ein kollektives „Endlich!“ der Jury. Endlich war das Humordefizit behoben, endlich lag mit „Sie befinden sich hier“ ein stilistisch makelloses, makaber komisches Kabinettstück vor. Was als harmlose Winterwanderung im tschechischen Riesengebirge begann, endet mit dem Gedankenstrom des Ich-Erzählers (oder ist es eine Frau?) kurz vor dem Erfrierungstod. Schuld ist eine gewisse Anne, die keine richtige Wanderkarte mitnahm und über deren Schicksal nur gemutmaßt werden kann. Das Gehirn des chronischen Besserwissers beginnt frei zu assoziieren, von unsichtbaren Schneehasen bis zur mangelhaften Ausstattung von Outdoor-Jacken. Der Text ist ein einziges In-Abrede-Stellen, ein existenzielles Leugnen der Gefahr. In Brechts „Badener Lehrstück vom Einverständnis“ übersteht der Denkende den Sturm in seiner kleinsten Größe. Kathrin Passigs Erzähler-Ich will neumodisch „immer in Bewegung“ bleiben und manövriert sich damit in den Untergang.

„Literatur sollte der Beginn von etwas sein, das wir nicht wussten“, sagte der Juror Burkhard Spinnen in einer seiner schillernden, wie immer druckreifen Konklusionen. Karl Corino dagegen, für den erkrankten Norbert Miller eingesprungen, wollte alle Texte an seinem Leib-und-Magen-Autor Robert Musil messen, was seine Laune zusehends verschlechterte. Die Forderung nach der geistigen „Aventiure“ erfüllte Kathrin Passig am deutlichsten, was sie zur hochverdienten Trägerin sowohl des Ingeborg-Bachmann- als auch des Kelag-Publikumspreises macht.

Die anderen Entscheidungen der Jury jedoch überraschen nur negativ: Mit Bodo Hell wurde die von Maultrommel-Gezirpe begleitete Sprachgymnastik eines bewährten Wiener Avantgardisten prämiert, mit Norbert Scheuers Heimatsaga „Überm Rauschen“ das einschläfernde Wirken eines Hermann Löns aus der Eifel. Angelika Overaths Liebesgeschichte zwischen einem neurotischen Aquaristen und einer sich unverstanden fühlenden Reisefotografin überrascht immerhin mit ihrer Bildsprache „unter dem klickenden Himmel des Transits“. Dieser Siegeszug der – bis auf Passig – mittleren bis reifen Jahrgänge ließ jüngere Kandidaten völlig leer ausgehen. Darunter sind so innovative Erzähler wie Kevin Vennemann, der sich syntaktisch eigenwillig der Hinterlassenschaften der NS-Zeit (auch in Kärnten) annimmt oder Thomas Melle. Sein metaphorisch steiler Report aus dem Seelenleben von Studienstiftlern inklusive Mordversuch im nächtlichen Swimming Pool sorgte für erste Aufwallungen in einem allzu braven Parcours. Aber auch der Leipziger Clemens Meyer, dessen Roman „Als wir träumten“ im Frühjahr für gehöriges Aufsehen sorgte, hatte keinen Erfolg mit seinem „Unterschichts-Kasperletheater“ (Radisch) über einen Boxer, der naiv wie einst Franz Biberkopf aus der Haft entlassen wird – dabei hatte sich das sächsische Naturtalent so große Hoffnungen gemacht (Tagesspiegel vom 21.6.).

Ostdeutschland als Ort einer gewaltigen Desillusionierung war ein Leitthema, das andere das alte Faszinosum des Sehens und seine Umsetzung in Literatur. Ihm widmete sich etwa der „Wahrnehmungsexzentriker“ Paul Brodowsky. Der in Berlin lebende Schweizer Silvio Huonder beschreibt kühl die Unverbindlichkeit der Enddreißiger, die durch eine ungeplante Schwangerschaft erschüttert wird. Doch der dreißigjährige Wettbewerb wollte von solch zeitgenössischen Sujets letztlich nichts wissen, sondern hielt sich lieber an Bodo Hell: „Yorkshire Terrier im Endspurt: wuff“.

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