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Kultur: Im Transit

Ost oder West, Metropole oder Provinz – was ist das für eine Stadt? Zehn Wahrheiten über Berlin

ALLES RONALD

In Basel gewesen, ins Kino gegangen, am helllichten Tag, der Tinguely-Brunnen pustete Eiskristalle in die frisch gewaschene Luft. Dresens „Sommer vorm Balkon“ geguckt, ohne Untertitel, in Basel, wo sie viele Sprachen sprechen, aber kein Berlinerisch. Vielleicht gibt es hier so winzige Häuser mit so winzigen Fensterchen, damit die Welt für immer draußen bleibt. So gesehen ist Berlin eine Katastrophe. Sagt Dresen. Alles plärrig, alles peinlich offenherzig, alles Dialekt. Alles Ronald eben. Oder Roland. Die vier älteren Schweizer Fräulein, die sich mit ins Kino verirrt haben, finden das nur mäßig lustig. Die Musik, ja, die sei rächt schön gsi, sagen sie beim Rausgehen. Nana Mouskouri, Vicky Leandros. Man möchte sie packen, schütteln, ihnen die erstbeste Fastnachtsfratze überstülpen. Ja, was glaubt ihr denn. Berlin ist anders. Und doch ganz genau so. Berlin ist das Gegenteil. Ein Schaufenster mit Augen. Ein Aquarium mitten im Meer. Selten solche Sehnsucht gehabt.

EXILANT

In einem Taxi von Prenzlauer Berg nach Schöneberg. Der Fahrer erzählt aus seinem Leben. 1979 Flucht aus Iran, als „Ungläubiger“ durfte der Naturwissenschaftler nicht mehr in seiner Firma arbeiten, er fand seinen Namen auf einer Liste. Freunde und Kollegen werden nach der Chomeini-Revolution verfolgt oder ermordet. Exil in Berlin, zwanzig Jahre Arbeit in einem Ingenieursberuf. Dann traf ihn großes finanzielles Pech, seitdem ist er Taxikutscher. An Rückkehr sei nicht zu denken. Als ich aussteige, sagt er: „Wünschen Sie mir Glück, ich kann es brauchen.“ Ich denke: Wir alle in Berlin leben im Westen. Wir leben nicht alle gut in Berlin, aber wir leben sicher. Im Autoradio lief während der Fahrt ein BBC-Programm über tödliche Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen in Nigeria. Der Moderator fragt, ob man das Land teilen solle. Rüdiger Schaper

FUSSGÄNGERBRÜCKE

Es gibt keinen schöneren Platz in Berlin als die Brücke, die vom Bahnhof Friedrichstraße über die Spree zum Schiffbauerdamm führt. Nirgendwo versprüht die Stadt, die so gerne Metropole wäre, ihren spröden Charme so intensiv. Nirgendwo ist Berlin mehr New York als an dieser ewig unfertig wirkenden Fußgängerüberführung, auf der man sich zwischen Stahlträgern und zum Gedröhn der S-Bahn den Weg über den Fluss sucht. Manchmal spielt ein Russe Saxofon gegen den Lärm der rumpelnden Züge an, manchmal eine Russin Akkordeon. Und da ist Berlin dann auf einmal nicht mehr New York, sondern Moskau, denn schließlich ist das hier der Osten, und der Osten ist gut, weil er schroff ist und Lieblichkeit sich nicht eignet für eine Stadt, die doch Metropole werden will. Genau hier ist Mitte, genau so ist Mitte: immerfort werden, niemals sein. Manchmal, wenn die Punks den Menschen im erwachenden Regierungsviertel „einen schönen Tag noch“ hinterher rufen, spürt man die Kraft, die von der Mitte ausgeht. Wenn du es hier schaffst, schaffst du es überall! Axel Vornbäumen

GEWERBEGEBIET

Es war einmal ein kleiner Kiez, Halensee in Charlottenburg. Bis zuletzt funktionierte er leidlich, er hatte auch eine gehörige Portion Westberliner Tradition zu verwalten. Ein paar Stichworte zur Tradition: die Schaubühne, der SDS, was der Sozialistische Deutsche Studentenbund war, das Haus Kurfürstendamm 140, in dem Rudi Dutschke wohnte und vor dem er niedergeschossen wurde, die Kommune 1, der Stuttgarter Platz. Man kann diesen Stichworten im Kiez noch nachspüren, aber insgesamt wird er doch gerade zum Gewerbegebiet West umgebaut. An der S-Bahntrasse entlang der Gervinusstraße und der Heilbronner Straße haben sich die üblichen Verdächtigen niedergelassen: Aldi, Lidl, Plus. Die Reicheltfiliale, die jahrelang die Menschen ausreichend versorgte, ist dagegen schon ein liebenswerter Tante-Emma-Laden. Die Straßen drumherum sind zwar für Lieferverkehr und Kundenverkehr viel zu klein, aber das hat bei Baugenehmigung offensichtlich nur die Anwohner gestört. Auf den Straßen ist es eh ungemütlich, seit Aspria, Berlins größtes Fitnesscenter, aufgemacht hat und die Fitten jetzt mit den dicken Autos an der Halensee-Grundschule vorbeirasen. Es ist halt ein Gewerbegebiet. Kürzlich wurde oben am Kudamm ein Prinz Foffi und eine bekannte Witwe beim Flanieren beobachtet. Wenn das kein Zeichen für den Niedergang ist? Helmut Schümann

BERGAUF

Ostdeutschland hat in den neunziger Jahren eine moderne Infrastruktur bekommen, aber es nützt nichts. Die gut ausgebildeten jüngeren Leute gehen in Massen weg. Keine Arbeitsplätze. Im Osten Berlins dagegen gibt es zwei, drei Bezirke, in die massenhaft gut ausgebildete jüngere Leute und Kapital hineingeströmt sind. Im Osten Berlins geht es, an manchen Stellen, ein bisschen bergauf. Und das soll jetzt plötzlich ein Problem sein? Herr Diepgen, sind Sie irre?

Erstens verteilen sich in der Stadt die kulturellen und politischen Gewichte wieder ungefähr so wie vor der Spaltung. Zweitens gibt es in jeder großen Stadt – immer! – aufsteigende, absteigende und stagnierende Viertel. Drittens ist 15 Jahre lang die Infrastruktur der Westbezirke vernachlässigt worden, das musste so sein, denn im Osten gab es verdammt viel zu tun. Darin liegt der wahre Kern des Westberliner Vernachlässigungsgefühls, daran muss auch etwas geändert werden. Das ist keine große Sache und ganz bestimmt kein Grund zu hysterischen Reaktionen. Harald Martenstein

NIEMANDSLAND

Der Freund geht gerne zu Fuß durch die Stadt. Seine Lieblingspassagen sind die Zwischenorte. Die zehn Minuten zwischen Kreuzberg und Schöneberg unter den Yorck-Brücken. Die Straße, die nicht mehr Friedrichshain ist und noch nicht Prenzlauer Berg. Die Nicht-Gegend hinter dem Kochstraßenviertel mit der Kopfsteinpflaster-Markierung, da wo die Mauer stand. Brachflächen, Niemandsländereien, Transitraum zum Luftholen. Inselgefühl. Es stehen auch Häuser dort, es gibt sogar Läden und Kneipen, aber sie machen nichts her. Hier ist die Stadt nackt, eine ehrliche Haut, sagt der Freund. Jetzt fahre ich manchmal Umwege. Wegen der weißen Flecken Berlins. Luxus der Leere. Christiane Peitz

HIMMELSRICHTUNG

Ein Freund aus England. Er hat die Welt gesehen, hat drei Jahrzehnte in Hongkong, Singapur, Washington und London gelebt. Er kennt auch Deutschland und Berlin ganz gut, war Dutzende Male hier. Doch bei der nächtlichen Fahrt durch die verregnete Stadt müssen wir immer wieder halten und aussteigen. Keith staunt. Der Baldachin über dem Sony-Center und die erleuchtete Baustelle am Lehrter Bahnhof beeindrucken ihn mindestens so sehr wie seine geliebten preußischen Schlösser. Wir trinken viel Bier in vielen Kneipen. Zum Schluss in Wilmersdorf, da ist es ruhiger, da kenne ich mich aus. Aber Westen und Osten sind für uns nur Himmelsrichtungen. Wir haben keine Sehnsucht nach den schaurig-schönen Tagen der eingeschlossenen Stadt. Keith macht Berlin für einen Abend zur großen europäischen Metropole. Wir haken die Glienicker Brücke und den Bahnhof Zoo ab. Geschichte halt. Berlin wird was. Moritz Döbler

WOST UND EST

DEN Westen oder DEN Osten gibt’s in der Berliner Wirklichkeit immer weniger. Wir haben Wost und Est, und Mitte ist wirklich Mitte – ein Stück gesamtdeutsches (und internationales) Neuland. Eine Promenaden- und Fassadenmischung mit langsam wiedergewonnenem Eigenleben. Jahrzehntelang hat eine konservative Kulturkritik den „Verlust der Mitte“ (von Gott bis zu den schönen Künsten) bejammert. Der Preis der Mitte aber ist: die Randlage. Am Rande freilich lebt es sich meist angenehm. Eastend und Westend sind die klassischen Pole einer nicht nur um Kathedrale und Rathausplatz gebauten Großstadt. Dabei ist der Westen viel mehr (und viel jünger) als nur Ku’damm, Bahnhof Zoo oder Paris Bar. Er hat sich jenseits der Klischees längst verändert. Und merkwürdigerweise kommt der wirkliche Osten, kommen die neuen Polen, Russen, Tschechen am liebsten in den alten Westen. Charlottenburg wird wieder, wie in den zwanziger Jahren, zu „Charlottengrad“. Zwar gibt es keine Nabokovs und Pasternaks mehr, aber auch nicht nur Mafia oder Schwarzarbeit. Sondern ein Stück Berliner und europäische Normalität. Was hätte uns der selige Wolfgang Neuss gewünscht? „Frohe Ostern, frohe Western!“ Peter von Becker

LICHTERFELDE

Ich bin Lichterfelder. Aus LichterfeldeWest. Das ist wichtig, weil es gibt auch noch Lichterfelde-Ost. Wir Lichterfelder legen ziemlichen Wert darauf, nicht in einem Topf zu landen. Als Lichterfelder kommt man ganz schön rum. Es ist zwar sehr schön dort, aber Lichterfelde hat nicht alles, was man braucht. Die Theaterlandschaft ist ziemlich dünn, und Kinos haben wir leider keine mehr. Darum fahren wir manchmal in die Stadt und sagen das auch so. Ich kenne übrigens Prenzlauer Berger, die waren noch nie in Lichterfelde. Wahrscheinlich würden sie es auch nicht finden und würden am Ende in Lichtenberg landen. Oder in Lichtenrade. Und wer in Lichtenrade könnte ihnen den Weg nach Lichterfelde erklären?

Ich hätte auch Britzer werden können, grauenhafter Gedanke. Da kommt mein Vater her. Mein Opa war Spandauer, die Gegend ist mir bis heute fremd, und Oma kam aus Rixdorf, heute Neukölln. Erstaunlich, dass die sich überhaupt kennen gelernt haben. Ich glaube, Berliner bin ich nur im Urlaub. Zu Hause wäre mir das auf Dauer zu anstrengend. Ob die Stadt zusammenwächst, weiß ich nicht. Aber eins weiß ich: Lichterfelde-West und Lichterfelde-Ost werden niemals eins. Warum auch. Andreas Austilat

HALBE WELT

Andere Städte sehen so sehr nach sich selber aus. Sie geben es nie zu, aber im Grunde wollen sie, dass du genauso wirst wie sie. Ein Münchner oder ein Dresdener oder ... Berlin ist es egal, wie du bist. Ob du überhaupt da bist. Ob du bald wieder gehst. Darum ist Berlin vielleicht der einzige Ort in Deutschland, wo man als Nicht-Berliner wirklich leben kann. Eine wunderbare terra incognita. Natürlich ist Berlin auch ein bisschen hässlich, aber wer ist das nicht? Große Städte haben es nicht nötig, schön zu sein.

Auch sind Städte mit nur einer Geschichte, mit nur einer Mitte, unglaublich trivial. Zwei sollten es mindestens sein, das ist demokratischer. Du sollst keine andere Mitte haben neben mir? Viele finden, die eine Mitte sei viel mittiger geworden als die andere. Aber das macht nichts. Es ist gut fürs Gleichgewicht. Man kann so immer in die andere ausweichen. Traditionell sind alle Berliner Halbberliner. In manchen Straßen, manchen Kneipen, manchen Kinos der einst so anderen Hälfte hat man das Gefühl, man kenne sie schon immer. Kerstin Decker

Christine Lemke-Matwey

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