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Kultur: In die Schachtel gepackt, vom Winde verweht

Berliner „Tanz im August“: Uraufführung von Thomas Lehmens „Schreibstück“ sowie Nasser Martin-Goussets „Neverland“

Mit einer grauen Pappschachtel fing alles an. Thomas Lehmen hat sie an drei Choreografen in Estland, Deutschland und Portugal geschickt. In der Schachtel befinden sich die notwendigen Utensilien für ein Stück, das jetzt bei „Tanz im August“ erstmals realisiert wurde. Thomas Lehmen ist nämlich der Autor einer Partitur. Neben Verträgen und anderen Kleinigkeiten wurde sie in besagter Pappschachtel an Maart Kangro, Martin Nachbar und Sonia Baptista sowie deren Tänzer gegeben. Die durften damit machen, was sie wollen. Nur Mindestvorgaben mussten sie beachten: immer im Zeitraum einer Minute ein Thema bearbeiten - Sterben, Warten, Liebesgeschichte, Denken etc. Die Reihenfolge hat Lehmen festgelegt, ebenso die Möglichkeit, Sprache zu verwenden oder nicht. Die Gestaltung ist frei.

Aufgeführt wird das Ganze als Kanon. Jede Gruppe hat drei Abschnitte zu je 13 Themen, nach jedem Abschnitt tritt eine neue Gruppe hinzu. Zeitweise sind also alle drei Gruppen gleichzeitig mit ihren unterschiedlichen Interpretationen zu sehen. Nur an manchen Stellen und bei manchen Themen arbeiten alle am gleichen Thema – etwa bei der Aufgabe „Disco“ oder auch bei „Ficken“. Meistens aber herrscht auf der Bühne des Podewil ein Durcheinander, das zwar nicht unstruktruiert ist - schließlich tickt die Stoppuhr erbarmungslos. Aber Sinn macht es auch nicht, jedenfalls nicht auf den ersten Blick.

Den zweiten sollte man daher – und das ist integraler Bestandteil von „Schreibstück“ – in das Buch werfen, das Katrin Schoof aus Lehmens Material gestaltet hat. Darin sind Ablauf, Themenstellungen und sonstige Vorgaben erläutert. Das hilft dabei, durchs bisweilen herrschende Bühnen-Tohuwabohu und seine Motive durchzusteigen.

„Schreibstück“ ist gleichsam die Marxsche Umkehrung einer idealen Hegelschen Weltordnung des Tanzes: Der Autor mischt sich nicht in die Umsetzung ein. Dafür haben die Choreografen ihre Macht der Erfindung in wesentlichen Teilen an den Autor abgetreten. Und die Bewegung hat aufgehört, im Mittelpunkt zu stehen. Nicht mehr die Gestalt des Tanzes wird aufgeschrieben oder „notiert“, wie es das griechische "choro graphein"bezeichnet. Die Themen, die zeitliche Struktur, der Rahmen sind festgelegt. In ihnen bleiben alle Freiheiten. Die überfordern den Betrachter manchmal. Doch ist die Produktion von Kunst immer auch ein Kampf gegen das allzu Selbstverständliche. So gesehen ist „Schreibstück“ eine Zumutung, ein zunächst unverständliches, ein unerhörtes Projekt. Aber es lohnt die Mühe des Verstehens. Wann sonst gibt es Tanz zum Mitlesen? Franz Anton Cramer

Podewil, nochmals heute um 20 Uhr, anschließend Publikumsgespräch.

„J’aime“ – „Ich liebe", hebt die blondbezopfte Lady im schwarzen Viktorianergewand mit triumphierender Gewißheit an. Und sie lässt ein ausführliches Liebesgeständnis folgen. Erklären, verklären – sie muss einfach sagen, wie sehr sie liebt. Bejahung, Beschwörung, Bekenntnis – mit einer Sprachszene, die Emily Brontë entlehnt ist, lässt Nasser Martin-Gousset seinen Tanzabend „Neverland“ in der Schaubühne beginnen. Er hat – um mit Roland Barthes zu sprechen – „Fragmente einer Sprache der Liebe" aufgelesen, untersucht Liebesmythen in Literatur und Film.

Emily Brontës Roman „Sturmhöhe“ schockierte die Zeitgenossen durch die Schilderung zerstörerischer Leidenschaften. Nasser Martin-Gousset und seine exzellente Compagnie La Maison zeigen „Vom Winde verweht“. Immer wieder wird eine hübsche Brise Luft auf die Bühne gepustet, so dass die seidenen Gewänder der Tänzer zu flattern beginnen.

Ein Liebeswahnsinn zu viert: der französische Choreograf sperrt seine Protagonisten in ein Metallrund. Zwei Kapuzenmänner verbiegen sich anfangs zu Technoklängen, wenn sie die Vermummung abstreifen, beginnt der Aufstieg in ferne Gefühlswelten. Videos und Live-Großaufnahmen begleiten die tänzerischen Aktionen. Eine Kamera schwebt über einer wilden Berglandschaft – dazwischen geschriebene Dialoge wie im Stummfilm.

Liebe – eine literarische Konstellation. Doch der Choreograf beschwört noch einmal die Sprengkraft dieser Gefühle, die die bürgerliche Liebes-Ordnung bedrohen. Wenn die vier Protagonisten sich in die Arena begeben, herrscht eine aufgeladene Atmosphäre. Die Gewalt der Blicke und dann der Zusammenstoß der Körper. Liebe ist Kampf. Nasser Martin-Gousset, der einem noch als Partner von Sasha Waltz in bester Erinnerung ist, verkörpert den düsteren Heathcliff. Eine in sich versunkene Gestalt, die alle in den Bann zieht. Ein lauerndes Raubtier, das durch seinen Käfig schleicht und zu plötzlichen Attacken ansetzt. Die dunkellockige Cathy in ihrem seidenen Morgenmantel: dahinschmelzend in ihrer Liebessehnsucht, und doch von trotziger Undedingtheit. Das Duo von Heathcliff und Cathy ist von atemberaubender Intensität: zwei Ebenbürtige treffen aufeinander. Die blonde Viktorianerin verfällt nach dem Genuss einer Wasserpfeife ins Delirieren, die Liebesworte entgleiten ihr. Zum Finale dann Kate Bush. Die englische Sängerin katapultiert sich in immer schrillere Stimm- und Gefühlslagen, dazu flattern die blonden Haare der viktorianischen Emily im Wind.

Vor allem dank des geschickten Einsatzes von Video ist dieser amüsante Tanzabend zugleich eine kluge Reflexion über Affekte und Bild-Effekte. Mit schöner Ironie entlarvt Nasser Martin-Gousset romantische Projektionen. Doch er erzählt zugleich von der Sehnsucht nach den großen Gefühlen angesichts des heutigen Kleinmuts. Sandra Luzina

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