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Kultur: In jedem Bett ein Schauspieler

Welttheater Edinburgh: Neues von Mark Ravenhill, David Harrower – und Peter Stein

Das Festival in Edinburgh gilt als größtes der Welt. Hinter jeder Tür, die man öffnet, lauert ein Theater. In zwei Wochen gibt es über 2000 verschiedene Vorstellungen, die ersten beginnen um neun Uhr morgens und die letzten enden kurz davor. Im Fringe Festival darf jeder auftreten, der einen Ort findet, sich rechtzeitig anmeldet und die Gebühren bezahlt.

So sieht es denn auch aus – im Engländer schlummert der Stand-up-Comedian, und in Edinburgh will der heraus, komplette amerikanische Highschools reisen an, um mit ihrer Theater-AG entdeckt zu werden. Dass des genialen Theatererfinders Tadeusz Kantors internationaler Ruhm einst hier begann, hat Folgen bis heute. Auch das ist Edinburgh im August: Ich komme mit dem Zimmermädchen meines Bed & Breakfast ins Gespräch, sie ist aus Weißrussland und natürlich vom Theater. Morgens macht sie Frühstück, dann die Betten und nachmittags Kunst.

Und das ist nur das Fringe Festival, aber was heißt nur – Fringe is it! Dazu kommt das offizielle Edinburgh International Festival mit Musik, Oper, Theater und Tanz, je ein Film-, Fernseh- und Literaturfestival sowie die allabendliche Großveranstaltung Military Tattoo im Schlosshof. Alles zur selben Zeit in derselben Stadt. Man sieht fünf Vorstellungen pro Tag und hat doch immer das Gefühl, dass man in der falschen sitzt, dass die wahren Sensationen gerade woanders stattfinden. Um eine Schneise in den Theaterdschungel zu schlagen, veranstaltet der British Council alle zwei Jahre einen Showcase für zwei Dutzend Gruppen, zu dem Festivaldirektoren, Veranstalter und Kritiker aus aller Welt eingeladen werden. Die Auswahlkriterien sind nicht immer nachvollziehbar; viel Mittelmaß und auch ein paar richtig schlechte Aufführungen.

Was sich darüber erhebt, reicht von autobiografischem Storytelling – der Lyriker Lemn Sissay auf der Suche nach seiner afrikanischen Mutter und der Wahrheit über seine Identität: „Something Dark“ bis zum 3. Teil von Ursula Martinez’ szenischer Lebensreise, der amüsant kokett die Angst vorm Älterwerden bekämpft: „OAP“. Stan’s Cafe zeigt die UK-Version seiner wunderbaren Performance „Of All the People in All the World“: Menschen und Statistiken als Reishaufen versinnbildlicht. Der für die Festivalbesucher ist drei Mal so groß wie der für die Einwohner Edinburghs. Oder „On the Scent“ der Gruppe Curious, ein kleines, feines Kabinettstück, bei dem es um Gerüche geht und um die Erinnerungen, die sie wachrufen: Drei Frauen in drei Zimmern einer Wohnung verraten vier Zuschauern ihre olfaktorischen Geheimnisse.

Auch Peter Reders „Guided Tour“ beschwört private Erinnerungen herauf. Mit Proust und Benjamin als Leitfiguren wird der Bogen vom national heritage zum eigenen Familienalbum geschlagen. Was als normale Führung durch die viktorianische McEwan Hall beginnt, endet als kluge Reflexion über die Vereinnahmung der Vergangenheit als Trost für die Gegenwart. Ein reales Gebäude dient auch der Gruppe „dreamthinkspeak“ aus Brighton als Ausgangspunkt ihrer Aufführung – oder ist es eine lebende Installation?

„Don’t Look Back“ spielt mit dem Orpheus-und-Eurydike-Mythos, vor allem aber mit einer morbid geheimnisvollen Atmosphäre zwischen Tod und Schlaf. Endlose Gänge mit endlosen Bücherregalen, die jeden Geburts- und Sterbefall der letzten 300 Jahre in dieser Stadt verwahren. Man geht die geschwungenen Korridore des General Register House entlang, immer im Zwielicht, immer allein, begegnet schwarz gekleideten Bürodienern, die mit geräuschvoller Papierschneidemaschine Namen von Listen abtrennen wie den Kopf vom Rumpf, und man entdeckt seinen eigenen darunter. Man steigt dunkle Stufen hinauf und hinab, verliert völlig die Orientierung, stößt an Barrieren, öffnet Türen, horcht, tastet, erschrickt vor seinem plötzlichen Spiegelbild und kommt sich ziemlich verloren vor. Es ist ein Gang durch den Hades der Finsternis zum Licht eines riesigen Turms mit noch mehr Registraturen und noch mehr stummen schwarzen Männern. Ein somnambuler Halbtraum, unvergesslich.

Der letzte Schrei dieser Fringe-Ausgabe ist alles, was site specific heißt, und spätestens mit dieser Aufführung ist der Trend fest verankert. Dagegen sieht das Flagschiff „New British Drama“ ziemlich alt aus. Wenn man mehrere davon hintereinander sieht, fällt einem auf, dass sie alle nach dem gleichen Rezept gemixt sind: drei Teile Gewalt, zwei Teile Beziehungskiste, ein Teil absurde Grundsituation, das Ganze gut schütteln, mit ranzigem Humor abschmecken und eiskalt servieren. Lauter auf die Bühne gestemmte Hörspiele, in denen viel zu viel geredet wird, umgedrehte well made plays mit stereotypen Figuren, vorhersehbarer Dramaturgie und spießigstem Fernsehrealismus.

Keine Regel ohne Ausnahme. Hier heißt sie „an oak tree“ und ist von Tim Crouch. Das Stück erzählt die Geschichte eines Hypnotiseurs, der auf nächtlicher Straße ein Kind überfährt und seither keine Macht mehr hat über seine willenlosen Bühnenopfer. Der Vater des Kindes, der in seiner Trauer die Eiche am Unfallort zu seiner toten Tochter erklärt, besucht die Hypnose-Show und bestraft den Täter, indem er sich weigert, aus seiner Trance wieder zu erwachen. Das Spiel mit Sein und Schein erhält eine weitere Ebene durch den Trick, dass Crouch, der den Hypnotiseur spielt, sich jeden Abend einen neuen Mitspieler sucht.

Das ist ein Schauspieler – Edinburgh ist voll davon –, der das Stück nicht kennt und während der Aufführung über Kopfhörer oder direkt von Crouch eingewiesen wird. Er liest seinen Text ab und tut, was man ihm sagt, und wenn es klappt, ergibt sich daraus ein spielerisches Vexierbild von Realität, Fiktion und Manipulation. Die Emotionalität, die die Aufführung hervorruft, ist ungewöhnlich. Man ist verwirrt, gerührt, misstrauisch und bestürzt wie selten im Theater. Crouch kommt daher wie ein Pirandello des 21. Jahrhunderts, seine Meta-Ebenen sind zeitgemäß nüchtern, aber nicht weniger komplex.

Und dann das neue Stück von Mark Ravenhill („Shoppen und Ficken“), die Weltpremiere von „Product“, seinem Monolog für zwei Personen. Der Mann spricht, die Frau hört zu, wie im richtigen Leben. Den Mann spielt Ravenhill selbst, und das hinreißend. Es geht um einen geplanten Hollywoodfilm, „Mohammed and Me“, den der Regisseur/Autor seiner Hauptdarstellerin schmackhaft machen will, eine kitschige Liebesgeschichte zwischen einer einsamen westlichen Karrierefrau und „the dusky fellow with a knife and a prayer mat“. Der ist natürlich Terrorist, aus lauter Liebe wird sie auch dazu, und kurz bevor sie sich in Disneyland-Europe in die Luft sprengt, gibt es ein überraschendes Happy End. Das Ganze ist völlig absurd, zynisch, geschmacklos und irre komisch, und Ravenhill als eitler Gockel auf der Suche nach dem perfekten Script zieht alle Register zwischen schmierigem Charme und Drohgebärde, um die Schauspielerin zu überzeugen, mit ihm ins Studio und ins Bett zu gehen.

David Harrower, neben Ravenhill und (der 1999 verstorbenen) Sarah Kane der interessanteste der neuen britischen Dramatiker, hat seine Weltpremiere im offiziellen Festival. „Blackbird“, die kaputte Liebesgeschichte zwischen Una und Ray, ist ein rätselhaftes Puzzle aus Rache, Sehnsucht und Schuldgefühl. Sie war 12, er 40, als er sie verließ, 15 Jahre später findet sie ihn und stellt ihn zur Rede. Peter Steins meisterhafte Inszenierung hält die Spannung und das Interesse an der ziemlich konstruierten Geschichte wach, ohne je das Geheimnis preiszugeben, und Jodhi May und Roger Allam schaffen es, die Fieberkurve ihrer Begierde in jedem Moment zu beglaubigen – keine leichte Aufgabe. „Blackbird“ kommt im Herbst an der Berliner Schaubühne heraus, Regie: Benedict Andrews. Steins Inszenierung wurde von der britischen Presse als Höhepunkt des Festivals gefeiert, und er beweist, dass Stein, allen Fäusten und Penthesileen zum Trotz, immer noch einer der großen Regisseure Europas ist.

Renate Klett

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