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Inge Deutschkron zum 90.: In falscher Haut

Die Nazis zwangen ihr eine jüdische Identität auf, aber eigentlich war sie immer nur: Berlinerin

Es waren die Nationalsozialisten, die Inge Deutschkron zu einer Jüdin machten. Sie stempelten den Buchstaben „J“ in ihren Ausweis, zwangen ihr den zweiten Vornamen „Sara“ auf und ließen sie den gelben Stern tragen. Juden sollten sofort zu erkennen sein, erst nur in ihren Papieren, dann auch äußerlich, mit dem aufgenähten Davidstern auf der Kleidung. Keiner sollte der Vernichtung entkommen. Wie Inge Deutschkron trotzdem der Vernichtung entkam, das ist die Geschichte eines Wunders und des Mutes vieler Helfer, die sie und ihre Mutter versteckten. Deutschkron hat diese Geschichte in ihrer Autobiografie „Ich trug den gelben Stern“ aufgeschrieben, die seit 1978 in 22 Auflagen erschienen ist und 1988 zur Vorlage des Erfolgsstücks „Ab heute heißt du Sara“ im Grips Theater wurde. Aber das Gefühl, mit einer aufgezwungenen Identität leben zu müssen, gewissermaßen in einer falschen Haut zu stecken, hat sie nie wieder verlassen. „Jüdin bin ich überhaupt nicht“, hat sie 1998 in einem Interview mit dem Tagesspiegel gesagt. „Ich habe keine Religion. Ich finde, nach Auschwitz kann man nicht mehr glauben.“

Inge Deutschkron wurde am 23. August 1922 in Finsterwalde geboren und wuchs am Prenzlauer Berg in Berlin auf. In ihrem Elternhaus spielte Religion keine Rolle, der Vater, ein sozialdemokratischer Gymnasiallehrer, verlor bald nach Hitlers Machtantritt seine Arbeit. Kurz vor Kriegsbeginn konnte er nach England emigrieren, aber es gelang ihm nicht mehr, Frau und Tochter nachzuholen. Sie waren auf sich allein gestellt, der gelbe Stern machte sie zu Freiwild. Zum Glücksfall wurde die Begegnung mit dem blinden Unternehmer Otto Weidt, der in seiner Bürstenfabrik am Hackeschen Markt jüdische Beschäftigte vor dem Zugriff der Gestapo bewahrte. „Er tat etwas für jene Zeit Unglaubliches“, erzählte Inge Deutschkron später. „Er behandelte uns wie Menschen, kam uns mit Respekt entgegen, half, uns aufzurichten.“ Dass aus Weidts Werkstatt ein Museum mit mehr als 20 000 Besuchern pro Jahr wurde, ist auch ihrem Engagement zu verdanken.

Goebbels verkündete am 1. März 1943, Berlin sei „judenfrei“. Dass dennoch etwa 1700 Berliner Juden im Untergrund versteckt das Kriegsende erlebten, beweist, dass es nicht nur Nazis und Mitläufer gab. Inge Deutschkron, die von 20 mutigen Berlinern gerettet wurde, hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, daran zu erinnern, dass es Menschen gab, „die ihren Kopf riskierten, um andere aus den Klauen der Mörder zu retten“. Daniel Goldhagens These, die Deutschen seien „Hitlers willige Vollstrecker“ gewesen, hält sie für „Blödsinnig“. Deutschkron, die 1946 mit ihrer Mutter nach London gegangen war, kehrte 1955 nach Deutschland zurück, um in Bonn als Journalistin zu arbeiten. Für die israelische Zeitung „Maariw“ berichtete sie über den Frankfurter Auschwitz-Prozess. Frustriert über die steilen Nachkriegskarrieren von Altnazis wie Hans Globke und den Antisemitismus der Neuen Linken zog sie 1972 nach Tel Aviv. Seit 1988 lebt sie wieder in Berlin. Ein Dokumentarfilm stellt Deutschkrons „vier Leben“ unter das Motto „Daffke“. In dem Wort, das man mit „zum Trotz“ übersetzen kann, mischen sich Wurzeln aus dem Hebräischen und dem Rotwelsch. „Berlinisch ist die einzige Sprache, die ich richtig kann“, sagt Inge Deutschkron. So ist ihre eigentliche Identität wohl: eine Berlinerin zu sein.

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