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Kultur: Innen ohne Außen

„Das Leben der Riesenschildkröten ...“ im HAU

Es sind Träumer auf der Bühne, die durchs eigene Leben schlafwandeln. Denen nachts die Sehnsüchte ins Bewusstsein kommen. In den Morgenstunden, bevor der Wecker schrillt, tauchen die Bilder einer verflossenen Freundin auf, die gestorben ist. „Es fühlt sich gut an, diesen Schmerz zu spüren“, sagt einer. Und sinniert über seine aktuelle Freundin – wäre sie tot wie die im Traum, könnte er dann nicht glücklicher sein, wären nicht die Gefühle anders, größer? Das sind so die Gedanken, die man sich macht, während das Leben in atemlosem Tempo vorüberzieht.

Der japanische Regisseur Toshiki Okada erzählt in seinem Stück „Das Leben der Riesenschildkröten in Schallgeschwindigkeit“ von einer Jugend im rasenden Stillstand. Fünf junge Performer sind auf der kargen Bühne des HAU 2 versammelt, drei Männer, zwei Frauen, die sich die Reflexionen über die Hoffnung auf ein erfüllteres Leben teilen, über die Lust zu reisen und das Wohnen in Tokio. Okada ist ein Meister der ins Absurde vergrößerten Alltäglichkeit. In den Inszenierungen, die er mit seiner Company Chelfitsch aufzieht, kreisen die minimalistischen Szenen um Banalitäten des Urbanen und Fragen der Vergeblichkeit. Und spiegeln dabei mit seismografischem Gespür die Befindlichkeiten der japanischen Gesellschaft. Ein Sprech- und Bewegungstheater, das mit scheinbar geringem Aufwand maximale Wirkung schafft.

In der Trilogie „Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech“ ließ Okada Leiharbeiter einer Firma darüber sinnieren, was es bei der Abschiedsfeier anlässlich der eigenen Entlassung zu essen geben soll. In „We are the undamaged others“ erzählte er von den Aufstiegsplänen eines Mittelklasse-Pärchens, das vom 7. in den 25. Stock ziehen will und für das Glück gleichbedeutend mit Geld ist. Auf heiter-teilnahmslose Weise desillusioniert erschienen seineBühnenmenschen, die Hoffnung auf echte Veränderung ist ihnen längst abhanden gekommen. Eine Haltung, die „Das Leben der Riesenschildkröten“ ins Extrem treibt. Der Titel spielt dabei auf das „Galapagos-Syndrom“ an, das man in Japan kennt: das Leben in einem abgeschotteten System, das Insel-Gefühl nicht der Seligkeit, sondern des Somnambulen. Entsprechend entrückt agieren hier die Träumer, fantasieren von U-Bahn-Fahrten ohne Ziel und Ende, während derer das Dasein anforderungsfrei verstriche.

Das Stück hatte einen Monat vor der Katastrophe von Fukushima Premiere in Tokio. Es zeigt keine Gesellschaft im Schockzustand. Sondern das Dämmern vor dem Desaster. Wenn ein Spieler sagt, es sei vielleicht eine gute Idee, „mehr Nachrichten zu schauen und sich auch dafür zu interessieren“, lädt erst das Wissen der Gegenwart die Sätze mit Hintersinn auf.

Okada erzählt von einer Innerlichkeit, die kein Außen mehr kennt. Reisen will die Freundin, weshalb nur? Und Tokio wird gepriesen als faszinierende Stadt der Gegensätze, in der Tradition und High- tech aufeinanderprallen. Aber das seien doch auch Klischees. Tatsächlich beginnen alle Probleme der Welt mit den Immobilien: Man wird sesshaft. Dann kommt der Alltag. Die Krise, das ist bei Okada der Dauerzustand. Er wird noch viel zu erzählen haben. Patrick Wildermann

Wieder heute, 15.10., 20 Uhr, HAU 2

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