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Kultur: Inseln der Menschlichkeit

Kino und Politik: der französische Regisseur Bertrand Tavernier über die Macht der Empörung und seinen Film „Holy Lola“

Monsieur Tavernier, Sie drehen Filme über ernste Themen, über Krieg oder soziales Elend in Frankreich. Trotzdem sitzen Sie hier und lachen.

Wenn Sie meine Arbeit beschreiben, klingt das, als sei ich ein schrecklich langweiliger Mensch. Ich wache nicht jeden Morgen auf und überlege mir, wie ich die Welt retten kann. Ich möchte Spaß haben. Und ich habe gute Laune, weil ich schon mit zwölf Filmemacher werden wollte, und ich bin es geworden, mit Leidenschaft und ohne Kompromisse.

Sie haben schon als Jugendlicher Volker Schlöndorff kennen gelernt, er war Austauschschüler in Ihrer Klasse.

Ich war 16 und fühlte mich sofort von ihm angezogen. Er war unglaublich intelligent, sprach perfekt Französisch, und wir schauten uns Hunderte von Filmen an. Anders als ich hatte er keineswegs vor, Regisseur zu werden. Aber er lernte in meinem Elternhaus einen Mitarbeiter von Louis Malle kennen, der ihm ein Empfehlungsschreiben mitgab. Darin stand: Lieber Louis, die Bekanntschaft mit einem deutschen Philosophen kann Dir nicht schaden. So wurde Schlöndorff Regieassistent von Louis Malle. Wir waren auch beide Assistenten bei Jean-Pierre Melville. Volker verschaffte sich mit der Autorität eines Deutschen den nötigen Respekt, er wusste, wie man brüllt. Ich dagegen war vollkommen unfähig und stand wie versteinert am Set. Inzwischen kann ich schon mal aus der Haut fahren.

Wie begann denn Ihre Politisierung?

Als Jugendlicher hatte ich keine Ahnung vom Algerienkrieg und war empört, als ich herausfand, dass die Franzosen dort folterten. Ich wollte sofort etwas unternehmen. Wir mussten regelrecht die Polizei austricksen, um „Octobre à Paris“ zu sehen: einen zensierten Film über die Antikriegsdemo 1961, bei der es viele Tote gab. Wir konnten uns schon damals nicht nur für expressionistische Stummfilme begeistern. Wobei unser politischer Kampfgeist nicht sehr subtil war. Wir waren gegen den Krieg, die Kirche, die Polizei und natürlich gegen den Völkermord an den Indianern. Aber die Kavallerie bei John Ford, die liebten wir auch.

Als junger Mann haben Sie epische Filme über desillusionierte ältere Menschen gedreht, „Der Saustall“ oder „Das Leben und nichts anderes“. Jetzt bevorzugen Sie einen härteren Reportagestil und erzählen von jungen, engagierten Leuten.

Vielleicht werde ich mit dem Alter ungeduldiger. Ich hasse Zyniker wie diese Maoisten, die einem der größten Verbrecher auf den Leim gingen und heute keine Lust mehr auf Politik haben. Es ist aufregender, wenn jemand nicht aufgibt. Gut, auch ich war von der Linken oft enttäuscht, von Mitterrand oder Jospin. Aber die Rechte ist keine Alternative. Ich habe nie einer Partei angehört und wollte als Filmemacher nie Statements abgeben.

Ihr Name taucht häufig unter politischen Manifesten auf. Auch gegen George W. Bushs Wiederwahl haben Sie protestiert.

Ebenso habe ich gegen die französischen Einwanderungsgesetze protestiert oder filmpolitische Manifeste unterschrieben. Das liegt daran, dass ich immer wieder dazu gedrängt werde. Mein Name, heißt es dann, sei sehr hilfreich. Aber die meisten Anfragen lehne ich ab. Die Journalisten sind unglaublich faul. Statt zu recherchieren schreiben sie ab oder wollen Statements von Prominenten.

Wie sind Sie auf das Thema Ihres neuen Films „Holy Lola“ gestoßen? Es geht um die Adoption von Kindern aus der Dritten Welt und den Krieg mit der Bürokratie.

Ich wollte unbedingt den wunderbaren Indien-Roman meiner Tochter Tiffany verfilmen, „Dans la nuit aussi le ciel“. Eine junge Frau erleidet einen schrecklichen Verlust, ist voller Trauer und Selbstmitleid und sieht sich plötzlich mit einer Stadt wie Kalkutta konfrontiert, mit dem Leid von Millionen von Menschen. Aber meine Tochter sagte: In Kalkutta drehen, unmöglich. Sie hatte dann die Idee mit den französischen Adoptiveltern, die nach Kambodscha kommen. Auch diese Eltern leiden, müssen Prüfungen über sich ergehen lassen, sind verletzt, gedemütigt. Und auch sie erleben einen Kulturschock in dieser unglaublichen Fremde.

Wie erging es Ihnen in Kambodscha?

Südostasien ist ein noch größerer Schock als Mexiko oder Kenia. Es gibt dort Dinge, die ich nie begreifen werde. Aber noch einmal: „Holy Lola“ ist kein Thesenfilm über Adoption oder die Dritte Welt, sondern ein Film über ein Paar. Über Herz, Kopf, Eingeweide zweier Liebender in einer Extremsituation. Über ihren Schmerz, ihr Glück, ihre Missverständnisse, das Begehren und die Gewalt ihres Begehrens.Sie wissen nicht, ob ihre Liebe am Ende verwundet oder geheilt sein wird.

Das klingt fast privatistisch. Sie verstehen sich nicht als politischer Filmemacher?

Nein. Ich habe nie beschlossen, jetzt mache ich einen Antikriegsfilm, und dann „Das Leben und nichts anderes“ oder „Hauptmann Conan“ gedreht. Wer ist nicht gegen den Krieg! Interessant ist aber die Frage, wie man einen Krieg überhaupt beendet. Oder wie man lernt, im Frieden zu leben, wenn alles um einen herum zerstört wurde. Wie lebt man mit dem Widerspruch, dass die einen schreckliche Verluste bewältigen müssen und für die anderen Goldgräberstimmung herrscht?

Auch Ihr Sozialdrama „Es beginnt heute“ über einen Vorschullehrer in der Provinz hat nichts mit Engagement zu tun?

Den habe ich aus Bewunderung gedreht. Aus Bewunderung für Lehrer, die Lesen und Schreiben lehren sollen und sich dann darum kümmern, dass das Kind zuhause nicht mehr geschlagen wird. Was tut ein Lehrer, wenn das Schulamt ihm sagt, dass er dafür nicht zuständig ist? Ich mache Filme über Menschen, die versuchen, eine kleine Insel der Zivilisation zu schaffen an einem unwirtlichen Ort, von dem die anderen längst geflüchtet sind.

1998 forderte ein Minister die Kritiker des neuen Ausländergesetzes auf, eine Weile in Vorstädten mit hohem Ausländeranteil zu leben. Sie taten das und drehten mit Ihrem Sohn den Dokumentarfilm „Jenseits des Stadtrings“.

Wir waren sechs Monate immer wieder in Grands Pechés bei Paris. Wir haben dort tolle Menschen kennen gelernt, zum Beispiel den alten Arbeiter, der sehr bewegend und lustig von seiner Jugend als Stalinist erzählte und wie er alleine gegen den Boss protestierte. Er ist kurz nach den Dreharbeiten gestorben. Ich werde nie vergessen, wie er uns zur Tür begleitete und sagte: Hören Sie bloß nicht auf, zwischen uns und denen zu vermitteln.

Wie halten Sie es mit der Verantwortung? Sie gehen wieder, Ihre Protagonisten bleiben – unter oft unwürdigen Bedingungen.

Ich versuche, jeden Voyeurismus zu vermeiden. Wenn eine Frau die Armut in ihrer Wohnung nicht zeigen möchte, filme ich das nicht. Und ich bleibe in Kontakt, in Grands Pechés habe ich mittlerweile ein Patenkind. Manchmal haben Filme sogar reale Folgen. „Jenseits des Stadtrings“ zeigte ich Lionel Jospin, er schrieb daraufhin dem Energieminister, und ein neuer, besserer Stromvertrag wurde ausgehandelt. Nach „Holy Lola“ wurde das Adoptionsgesetz geändert. Und nachdem der rechte Innenminister Nicolas Sarkozy meinen Film über die double peine gesehen hatte, also über die Praxis, straffällige Ausländer nach ihrer Haft abzuschieben, änderte er seine Meinung und das Gesetz. Trotzdem bin ich nicht so naiv zu glauben, ich könnte die Welt ändern. Aber wir sollten immer so handeln, als ob es möglich wäre. Nur so gelingt es manchmal.

Das Gespräch führte Christiane Peitz.

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