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Senegals Stimme. Ndione Abasse, geboren 1946, in Berlin.

© Ali Ghandtschi/Literaturfestival

Internationales Literaturfestival Berlin: Auf Treu und Glauben

Haltung mit Risiko: Das Internationale Literaturfestival Berlin beschäftigt sich mit Kulturen des Vertrauens. Doch das Risiko, dieses könnte enttäuscht werden, ist allgegenwärtig

„Ihr seid ordentliche Fischer, ihr kennt das Meer sehr gut“, sagt Malang, „also kann ich euch die Dorfbewohner, alles Verwandte von mir, ganz beruhigt anvertrauen.“ Die 40 Dorfbewohner, von denen in Abasse Ndiones Jugendroman „Die Piroge“ die Rede ist, haben eine gefährliche Reise vor sich: Sie hoffen, auf einem offenen Boot nach Europa zu kommen, denn vor den Küsten Senegals haben schwimmende Fischfabriken aus eben jenem Europa die Meere leergefischt, und die lokale Landwirtschaft ist von Konzernen ruiniert worden.

Für die vielen Schüler, die dieses auch verfilmte Drama auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin verfolgt haben, freut sich Programmleiter Thomas Böhm, bekomme das, was sie im Fernsehen über „Wirtschaftsflüchtlinge“ zu sehen bekommen, so plötzlich ein Gesicht: Männer und Jugendliche und sogar eine Frau, die für etwas kämpfen, worauf hiesige Kinder selbstverständlich vertrauen: Zukunft.

Mit der anlässlich des Luther-Jahres von der Kulturstaatsministerin geförderten Reihe Kulturen des Vertrauens, die auch die religiösen Gemeindehäuser der Stadt einbezog, begab sich das Festival auf unsicheres Gebiet. Seitdem den modernen Gesellschaften das Gottvertrauen abhanden gekommen und manche Religion gar zum Misstrauensfaktor geworden ist, liegt es an den Menschen selbst, eine Vertrauenskultur zu schaffen. Doch das Vertrauen in andere, so die Historikerin Ute Frevert in einem Gespräch mit Tobias Hülswitt, „ist eine kalkulierte Haltung“. Sie unterstellt, das Gegenüber sei einem gewogen, handle in unserem Sinn. Doch das Risiko, es könnte auch gegen uns entschieden werden, ist allgegenwärtig. Und schon befinden wir uns, in der Liebesbeziehung, in der Wirtschaft oder Politik, mitten in einer ultimativen „Vertrauenskrise“.

Vertrauen muss gerechtfertigt, wechselseitig sein. Deshalb, gesteht der russischstämmige ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow, traue er nur seinen Zweifeln – und seinen Kindern. Allerdings auch nur dann, wenn sie es verdienen würden. In der Familie und der Paarbeziehung ist Vertrauen weniger die Sache von „Ehrenmännern“ als vielmehr der unerlässliche Kitt, der das Gefüge zusammenhält. Einmal verspielt, ist es nur schwer wieder herzustellen.

Vertrauen ist Risiko

Der aus der Dominikanischen Republik stammende und in den USA lebende Autor Junot Díaz hat in dem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ diese Gefühlsareale ausgemessen und ist zum Ergebnis gelangt, dass „das Bett nur ein beschränkter Garant“ für Vertrauen ist. In der streckenweise ins Psycho-Babble abgleitenden Unterhaltung mit Christine Eichel – „nur der Verlust macht klar, was man hatte“ – wurde immerhin deutlich, dass die Moderne vor allem das Misstrauen antrainiert; der Generalverdacht ist allgegenwärtig. „Der beste Weg herauszufinden, ob du jemand vertrauen kannst, ist ihm zu vertrauen.“ Das jedenfalls ist der Rat Ernest Hemingways, den Danny Morrison, ehemaliger Pressechef der irischen Sinn Féin, als Motto seinem Essay vorgestellt hat, in dem es um die Deutungshoheit über den irisch-republikanischen Kampf geht. Als Jugendlicher überzeugt von der politischen Mission der IRA, in den siebziger Jahren im berühmt-berüchtigten Gefängnis Long Kesh inhaftiert, setzt sich Morrison seit dem Waffenstillstand 1994 für den Ausgleich zwischen Protestanten und Katholiken ein, indem er in Belfast regelmäßig Festivals organisiert: „Erst der Frieden schaffte die Möglichkeit, mit unseren Feinden in Dialog zu treten.“

Südafrika hat hierfür die Wahrheitskommissionen erfunden. In Nordirland ist es die Kultur, die Literatur und Musik, die über tiefe Gräben hinweg Fäden knüpft. Der Weg aus dem Kalten Krieg war ein höchst komplizierter Weg des vorsichtigen Vertrauensmanagements. Wer ihn erlebt hat, kann kaum glauben, was sich in diesen Tagen ereignet.

Kurkow ist pessimistisch: Ein Volk, das sein Schicksal Putin anvertraut, müsse damit rechnen, ihn 15 Jahre auf dem Hals zu haben; und weitere zehn, um ihn aus der Erinnerung zu tilgen. Der Aufstand auf dem Maidan sei ein Misstrauensantrag gegenüber der korrupten Regierung in Kiew gewesen, denn in der individualistisch geprägten Ukraine herrsche eine gesunde Misstrauenskultur. Über dieses Ereignis hat sich mittlerweile das zerrüttete Verhältnis zu Russland geschoben: „Künftige Generationen von Russen und Ukrainern werden wie Ausländer miteinander umgehen müssen.“

Symbol für die Endzeit des Kapitalismus

Vielleicht ist die Vertrauenswährung im öffentlichen Austausch auch einfach falsch angelegt. In den westlichen Ökonomien, so die Historikerin Frevert, senke die Vertrauensmünze lediglich die Transaktionskosten, jedenfalls solange sie nicht inflationärer Entwertung zum Opfer fällt. Politiker, insbesondere Politikerinnen, die mit dem Glaubwürdigkeitsbonus unterwegs sind, müssen immer gefasst sein auf den Verrat.

Ein von jeglichem Firnis des Vertrauens entblößter Staat ist Südkorea, über das der Schriftsteller Hwang Sok-Yong anlässlich der jüngsten Fährkatastrophe behauptet, es habe alle Legitimität verloren und sei nur noch ein Symbol für die Endzeit des Kapitalismus. Dass er als junger Mann gegen die Diktatur gekämpft und sich das bis zum Ende seiner Lebenszeit nicht geändert habe, mache ihn müde: „Ich kann nicht mehr.“

Glücklicherweise gibt es die Nachgeborenen, die noch nicht zu lange in Gefängnissen, im Auge des Taifuns wie die syrische Schriftstellerin und Journalistin Samar Yazbek oder im Exil wie der iranische Schriftsteller Bahiyyih Nakhjavanis ausgeharrt haben oder ernüchtert sind, wie die Südafrikaner Charl-Pierre Naudé und Sonwabiso Ngcow nach 20 Jahren Rainbow Nation. Vielleicht sollte, wie Frevert meint, Vertrauen auch den Nahverhältnissen vorbehalten bleiben und darüber hinaus gegen confidence eingetauscht werden – Zuversicht. Eben jene Zuversicht, die Ndiones Pilger über das Meer treibt.

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