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© dpa

"Iphigenie": Euripides schlägt Goethe

Nicolas Stemanns „Iphigenie“-Doppel am Hamburger Thalia-Theater lebt vom großartigen Auftritt einer Diva: Natali Seelig ist laut, reich und nur beinahe elegant – eine Mischung aus Maria Callas und Gloria von Thurn und Taxis.

Der Zuschauerraum im „Theater des Jahres“ 2007 ist frisch renoviert. Und angemessen hell erleuchtet beginnt das klug gekürzte Double Feature, das Nicolas Stemann im Hamburger Thalia-Theater zur Spielzeiteröffnung inszeniert hat. „Iphigenie“, verteilt auf „Iphigenie in Aulis“ von Euripides und Goethes „Iphigenie auf Tauris“. Und weil die Sache etwas verwickelt ist, bleiben zunächst die Saallichter an – und Agamemnon (Alexander Simon) erzählt die lange Vorgeschichte zum Trojanischen Krieg.

„Was ich damals verkehrt gemacht, das mach ich jetzt wieder gut“, verspricht er, und schon nimmt das Unheil seinen Lauf. Als lässiger Geschäftsmann sitzt Agamemnon vor dem Eisernen Vorhang an einem Tisch, wedelt mit einem Briefkuvert und erklärt trocken, warum er gleich seine Tochter Iphigenie opfern muss. Der Trojanische Krieg, der fehlende Wind und letztlich Paris sind die Gründe. Denn hätte Paris nicht Helena entführt und damit deren Gatten Menelaus (Felix Knopp) verärgert, zögen jetzt nicht die Griechen gegen Troja.

In Aulis aber herrscht Flaute, die Truppen hängen fest, und allein eine geopferte Iphigenie könne Besserung bringen, heißt es von oberster Stelle. Der „Chor junger Frauen“ ist bei Stemann die geballte Besserwisserei dreier glubschäugig-maskierter Frauen (Leila Abdullah, Katharina Matz und Victoria Trauttmansdorff), die ungefragt auf- und abtreten. Agamemnon hört nicht hin, quittiert die warnenden Frauen nur mit einem irritierten Blick, bevor er Iphigenie nach Aulis lockt. Eine Verheiratung mit dem ahnungslosen Achilleus (Andreas Döhler) hat er sich dafür ausgedacht, vor der Trauung jedoch steht die Opferung – die Tragödie kann beginnen. Die Bühne von Stefan Mayer öffnet sich und strahlt in hellem Weiß. Von der Rückwand blenden Neonröhren, darüber baumelt Lametta-Deko. Ein Blumenstrauß, eine Hochzeitstorte und ein blitzender Dolch warten bereits auf Iphigenie. Diese (Lisa Hagmeister) reist mit ihrer Mutter an, hält sich schüchtern am Rand und an ihrer Handtasche fest, während Klytaimnestra raumgreifend nicht an Glitzer und Glamour spart.

Großartiger Auftritt einer Diva! Natali Seelig ist laut, reich und nur beinahe elegant – eine Mischung aus Maria Callas und Gloria von Thurn und Taxis. Und irgendwo zwischen Silberkleid und Hermelin (Kostüme: Barbara Drosihn) drückt sie ihren plärrenden Jüngsten an die Brust: Orest. Achilleus sei eine „super Partie“, jubelt sie, doch als ein Bote im Hausmeisterkittel, gespielt von Christoph Bantzer, ihr den eigentlichen Plan enthüllt, wird sie zum Tier, zur Furie. Schließlich ist es Iphigenie selbst, die sich zum Opfertod entschließt.

Nur wer jung stirbt, kann zum Mythos werden – das hat sie schnell kapiert. Ihr heroischer Auftritt macht auch den als Retter versagenden Achilleus stolz. „Da könnt ihr euch alle mal ’ne Scheibe von abschneiden“, rät er, bevor Iphigenie im grellgelben Gegenlicht verschwindet. Einen Deus ex Machina, der die Geopferte auf einer Wolke nach Tauris entführt, gibt es bei Stemann nicht. Stattdessen ist – eine Lichtstimmung später – die junge Lisa Hagmeister gegen Katharina Matz getauscht, die jüngst ihr 45-jähriges Thalia-Jubiläum feierte.

Klug, humorvoll und vielschichtig erzählt Nicolas Stemann diesen ersten Teil des Abends. Fast ausschließlich verlässt er sich dabei auf den antiken Text, den die Darsteller mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit in die Gegenwart übertragen. Die Ausweglosigkeit der Situation, die Gewalt der Entscheidung und die Verstrickung der Figuren rücken unglaublich nah. Dagegen verblasst der zweite, Goethe’sche Teil der Inszenierung. Für das Exil auf Tauris ist die Bühne schwarz und leer. Ein paar Musiker drehen sich im Kreis, während Iphigenie sich zwischen Mikrofonen und einem streunenden Hund dem hartnäckigen Werben des König Thoas (Alexander Simon) widersetzt. Spannungsarm spinnt sich die Geschichte fort, es wird vom Gattenmord Klytaimnestras genauso berichtet wie vom Vatermord Orests.

Dieser (Andreas Döhler) will nichts lieber als den Tod und stolpert mehr als einmal von der Bühne ins Totenreich des Publikums. Später muss sich Iphigenie noch entscheiden zwischen Bruderrettung und der Achtung fremder Sitten. Sie, nun im Alter changierend, weil mit Matz und Hagmeister doppelt besetzt, hadert, bittet, fleht – und darf schließlich fliehen. Alles scheint gut. Nur König Thoas ist am Ende ganz allein: „Was ich damals verkehrt gemacht, das mach ich jetzt wieder gut“, verspricht er – und das Unheil beginnt von vorn. Stemanns dreieinhalb Stunden über Entscheidungen, Fremdsein und das unabwendbare Schicksal sind ein wenig durchwachsen, machen aber ausreichend Lust auf die neue Spielzeit.

Katrin Ullmann

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