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Kultur: Irgendwann hieß alles House

Zuerst schließen die Clubs, dann fällt die Love Parade aus. Die Techno-Kultur sei am Ende, heißt es. Doch stimmt das? Eine Analyse.

Die Teilnehmerzahlen der Love-Parade sanken schon seit längerem. Jetzt, wo das Ding ganz ausfällt, fragt sich die professionelle Zeitdiagnostik natürlich, ob da nicht mehr draus zu machen ist. Ein Epochenbruch: Das Ende von Techno? Denn Love Parade ist für die Leute Techno. Da freut sich die neokonservative Pop-Kritik der Wochenend-„SZ“ an der Rückkehr des Songs. Andere, eher linke Beobachter sehen das viervierteltaktige Stammterrain von Techno an einen stumpfen, in manchen Zügen rechtsradikalen Mob gefallen. Als Name für die weit gefächerten Aktivitäten rund um digitale elektronische Musik ist Techno ohnehin in den Hintergrund getreten. Und seit der Schließung des „Ostgut“, des letzten – vom feinsinnigen Laptop-Tüftler bis zum Baller-Hedonisten – konsensfähigen Party-Ortes in Berlin, gibt es nichts mehr, das die Milieus zusammenführt.

Doch soll man nicht dem Irrtum verfallen zu glauben, in der Pop-Musik sei irgendetwas irgendwann tatsächlich erledigt, ausgestanden und vorbei. In den frühen 70er Jahren, als sich die aktuelle Pop-Musik endgültig vom Rock’n’Roll gelöst zu haben schien, gab es ein erstes Rock’n’Roll-Revival.

1982 arbeitete ich bei einer Zeitschrift, die gerade den „Ausverkauf“ der Punkbewegung debattierte. Wir konnten damals einen alten Text nachdrucken, der 1970 die Kommerzialisierung des Progressive Pop geißelte. Wir mussten nur ein paar Namen ändern und hatten einen aktuellen Debattenbeitrag. Heutzutage begehen historische „Bewegungen“ wie die Mods ihren 40. Geburtstag. Die Feiern werden von Mittzwanzigern bestritten. Und die dunkel umhangenen Anhänger der Gothic-Kultur, schon seit den mittleren 80er Jahren als ganz arme Sinnsucherteufel belächelt, treffen sich weiterhin in Leipzig – auch hier sind die Anwesenden oft jünger als die Subkultur, der sie angehören. Und da soll Techno tot sein? Doch bevor man leichtfertig diesen Totenschein unterschreibt, sollte man den moribunden Patienten vielleicht einmal gründlich untersuchen.

Zwei zentrale Funktionen der Pop-Musik sind nicht wegzudenken: die Musik des Moments und die Musik der Erzählung. Grob kann man sagen, dass Techno von verschiedenen Tanzmusik-Vorläufern die Funktion übernommen hatte, den Moment zu organisieren: das intensive, vergängliche Jetzt, jenseits von Ich und Geschichte.

Songs sind hingegen für die Erzählung zuständig, für die Rückblicke auf genau diese großen Momente von Befreiung, Körperlichkeit und Hier und Jetzt, aber nun im Medium einer Biografie. Songs versprechen, reflektieren, gehen Gespräche mit ihresgleichen ein. Sie sind sentimental, moralisch oder auch unvernünftig und böse, Tanzmusik hingegen ist die Sache selbst.

Aber natürlich haben beide Funktionen ihrerseits eine Geschichte. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Ekstase des Augenblicks zu organisieren und verschiedene Möglichkeiten hinterher von den großen Momenten zu erzählen. In manchen Formen des frühen Rock’n’Roll strebte beides auf einander zu: „A Wopbopalooba Alopbamboom“ will unüberhörbar Ausdruck des Moments sein, stammelt aber auch schon den Anfang einer Erzählung. Auch in den psychedelischen Improvisationen des Progressive Rock der 70er Jahre soll momentane Intensität erlebt werden, in den Song-Teilen zu Beginn und am Ende hingegen verspricht und erzählt einer was: Dass der Song eigentlich nur Imperfekt und Futur kennt, Tanz- und Trancemusik aber im Präsens spricht, konnte in verschiedenen musikalischen Entwürfen noch versöhnt werden. In der Live-Situation aber brachten Song-Musik und Tanz-Musik dann unvereinbare Formen hervor: Einerseits verselbstständigte sich das Konzert mit hoch bezahlten Stars, die von ihrem intensiven Leben erzählten, und dem Zuschauer, der dort oben allenfalls Modelle oder Vorbilder erkannte. Und andererseits gab es die Party, die in erster Linie eine Produktion der beteiligten Leute war.

Aus der Party entwickelte sich nach und nach, für die Geschichtsbücher aber 1988 mit dem „Summer of Love“ in London die Form des Rave: die Dauerfeier ohne vorhersehbare Dramaturgie. Diese Dauerfeier hatte genauso eine europäische Vorgeschichte, wie die minimale Musik, die wir mit Techno verbinden, ihre Vorläufer hat. Beide hat es – ohne Techno – lange für sich gegeben. Party in anderen Pop-Phänomenen und seinen Vorläufern, repetitive Musik etwa in den Kompositionen des Minimalismus, in rammdösigen Rock’n’Roll-Nummern („Louie, Louie“) oder bei den frühen elektronischen Psychedelikern. Und erst die Verbindung aus dem auf der Gegenwart insistierenden musikalischen Format und der ekstatischen Party bildete ein Molekül, das alles um sich herum veränderte, eine neue kulturelle Form einführte: Techno.

Diese Form ist nicht mit archaischen Ritualen, dem Veitstanz oder mit Schamanismus zu verwechseln, die ein Teil seiner metaphysisch gestimmten Anhänger gerne in Techno erkennen wollten. Die Vorgeschichte von Abfahrt, Ekstase und Orgie spielt inmitten von Zivilisation und Rationalität. Sie gehört zu einer Welt der sozialen Differenzierungen, der Pluralität von Lebenswelten, nicht zu Gesellschaften mit verbindlichen Weltbildern. Und Techno-Musik gehört eher zur künstlerischen Moderne und ihrer Suche nach Nullpunkten und abstrakten Prinzipien als zum Gottsuchertum, das die Extasen der Hippie-Kultur bestimmte.

Das soziale Phänomen Rave und der vorübergehende Ausstieg aus dem Alltag ist nur in einer Welt vorstellbar, die Alltag und Freizeit unterscheidet, nicht in einer archaischen Welt, in der die verschiedenen Elemente des Weltverständnisses noch durch Rituale vermittelt werden. Die nur dem Exzess gewidmeten Momente des Rave werden erst dadurch radikal, dass man in ihnen keinen anderen Sinn sucht als den Exzess.

Techno-Musik besteht aus kleinen, attraktiven Soundfetzen, oft aus anderen Zusammenhängen bekannt, oft für den eigenen Gebrauch designt, die auf Beats geschnallt sind oder ganz mit ihnen konvergieren. Und das ist nicht so neu, wie es vielen zu Beginn der 90er Jahre schien: Die Vorläufer des Rave hatten zwar ganz andere Musik, aber die hatte oft ein ähnliches Prinzip: das Herausreißen von Klängen aus gewohnten Ordnungen und das minutenlange Insistieren auf diesen Sound-Attraktionen.

Die Klänge selbst aber waren vertraut. Siegfried Kracauer beschreibt die nächtelangen Can-Can-Raves der 1830er und 1840er Jahre in Paris. Zeremonienmeister war Napoléon Musard, „der große Musard“, weniger vortragender, expressiver Musiker als – genau wie der Techno-DJ – ein „Hexenmeister“. Kracauer: „Orgien. Sie wurden durch einen Musiker entfacht… Sobald er den Kommandostab schwang, rauschten Blendwerke herauf, die nur einem Bund mit den Mächten der Unterwelt entstammen konnten." Er riss musikalische Fragmente aus den sie normalerweise vermittelnden Opern: „Zerstörerische Kräfte hatten diese Opern bei lebendigem Leib in Fetzen gerissen. Waren es überhaupt dieselben Stücke? Aus den Zusammenhängen gesprengt, in die sie gehörten, gewannen sie ein eigenes Dasein und verwandelten sich, unerklärlichen Einflüssen gehorchend, in infernalische Quadrillen und Galopps Musard aber schwebte auf den Schultern von Besessenen wie mit Fittichen durch das Chaos.“

Das Prinzip, das Kracauer andeutet, scheint das Entscheidende an Musards Magie gewesen zu sein: die Entfesselung kleiner, aus dem Zusammenhang „gesprengter“ Einheiten. Musik eignet sich um so mehr zu ekstatischen Entrückungen, je massiver sie mit ihrem Sprachcharakter, also ihrer Tendenz, Sätze zu bilden, bricht, je mehr sie alle erzählerischen Assoziationen beseitigt, die an ihrem vertrauten Material hängen.

Wenn man so will, haben schon Futuristen und andere Avantgardisten das musikalische Prinzip von Techno geahnt, als sie sich für maschinelle Produktionsformen und mechanische Instrumente interessierten. Die bekannte Krawallschachtel George Antheil kam schon in den frühen 20er Jahren auf die Idee eines mechanischen Beats für sein „Ballet pour Instruments Mécanique et Percussion“. Er dachte sich diese Musik als Tanzmusik im weiteren Sinne, es war ein „Ballet mécanique“, keine Meditationsmusik. Und die Leute tanzten in den 20er Jahren in der Tat mechanischer, abgerissener als je zuvor. Doch noch spielten die magische Momente massenkultureller Tanzböden – von Can Can bis Jitterbug – und Antheils avantgardistische Aggressionen gegen die grammatische und syntaktische europäische Musik auf verschiedenen kulturellen Feldern. Antheil schockierte nur die Bürger, die in seine Konzerte gingen – und begeisterte surrealistische Bohemiens. Die Charleston-Tänzer bekamen von seinen Abstraktionen ihrer Zuckungen noch nichts mit.

Ende der 50er Jahre entdeckt die Minimal Music dann den reinen Pulse. Durch die Musik zieht sich wie ein Metronom ein tuckernder posthumaner Beat, der aber nicht mehr die Intention eines Schlagenden erkennen lässt, keine Akzente setzt, sondern einfach durchläuft – es ist nicht mehr der afrikanisch beeinflusste Backbeat, der das Jahrhundert schon gut 50 Jahre durchgeschüttelt hat, sondern ein Beat ohne Körperlichkeit.

Auch Minimal Music hat – wie schon der Can Can Musards – eine unheimliche Komponente: das bloße Ticken, Klackern des Pulse führt zu einem Hörerlebnis, bei dem die Abwesenheit eines Künstler-Gegenübers den Hörer fasziniert und auch irritiert. Man kann die Intention in solche Abläufe nur hineinhalluzinieren. So wie Umgebungsgeräusche einem in paranoiden Momenten „vorwurfsvoll“ oder „insistierend“ vorkommen. Techno hat nun dieses Prinzip des Pulses übernommen. Andererseits aber sind seine Beats wieder akzentuiert. Meist kann man sie in einen Vierviertel-Takt eintragen, sie haben einen Akzent und kommen nicht als rein mechanischer Pulse rüber wie bei der klassischen Minimal Music.

Allerdings werden diese Beats wiederum von einem Sequencer-Programm abgespult, dessen Mechanizität man ebenfalls spürt. Hier ist ein vertraut menschlich wirkender Beat, aber er wird unmenschlich regelmäßig exekutiert. Diese unheimliche Spannung wird durch die Party ins Euphorisierende gewendet, sie entlädt sich im Rausch. Dass kein Subjekt mehr hinter allem steckt, keiner spricht oder sich ausdrückt, ist plötzlich enorm erlösend und befreiend. Man sucht nicht mehr nach dem Urheber oder seinem unheimlichen Double, der Maschine und ihrem Masterplan, wie noch im New Wave der 80er Jahre. Man gibt sich der Freude an einem Erlebnis mit subjektfreier Musik hin.

Für diese psychologische Voraussetzung, Techno genießen zu können, mussten erst mal Leute angstfrei aufwachsen. In der Spannung zwischen Mechanizität und Rest-Subjektivität liegt für den Tänzer ein Gefühlsspielraum. Ich kann – je nach Ausprägung des Tracks – den menschlichen Moment des Schlages innerlich mitakzentuieren. Oder ich lasse mich fallen.

Die seit den frühen 90er Jahren auftretenden charismatischen DJs vom Typ Musard gaben dem Rave dann wieder ein Zentrum, machten ihn steuerbar: die Intensität, der magische Moment waren keine zufälligen Ereignisse. Nun war die Verbindung aus – steuerbaren, von Künstlern beherrschbaren – magischen Momenten von Gegenwärtigkeit und einer ganz bestimmten auf Mechanizität und Verausgabung aufbauenden Musik mehr geworden: eine neue kulturelle Form.

Sowohl die ganz lange Party, die es bei Hippies, bei Disco und bei Punk in ganz unterschiedlichen Verausgabungsstilen schon gegeben hatte, als auch die mechanische Musik waren lange auf Partnersuche gewesen. Als Techno hatten sie zueinander gefunden, von hier aus konnten sie sich erweitern, differenzieren und explodieren. Mit Entwicklung aber beginnt Geschichte: Vorläufer werden ausgemacht, neue Stadien erkennbar. Indem das Präsens perfekt geworden war, war die Geschichte des Präsens plötzlich in den Mittelpunkt geraten.

Rockmusik war in den 80er Jahren extrem voraussetzungsreich geworden und selbst junge Bands bezogen sich oft auf historische Stile und Zitate. HipHop, die neue Pop-Musik, rekonstruierte, über Jazz- und Funk-Samples und Soundbites die afroamerikanische Geschichte. Gegen diese erzählenden Stile setzte Techno seine antihistorische Form. Techno war gegen Geschichte, gegen Vorläufer-Kultur, gegen Zitate und andere, die Intensität unterbrechende Relativierungen angetreten. Durch den Erfolg beim Erheben dieses Anspruchs war Techno aber als kulturelles Phänomen mündig geworden und musste sich die externe Zuschreibung gefallen lassen, selber Geschichte geschrieben zu haben. Schließlich hatten auch Künstler wie Mike Ink und The Modernist angefangen, sich erkennbar auf frühere Stadien ihrer eigenen Musik und die anderer zu beziehen.

Im Zuge der Bewältigung dieses Problems, sich nun doch entwickelt zu haben, schämte sich Techno seines Namens schon bald. Für experimentellere Spielarten kamen Namen wie „Intelligent Techno“ auf. Irgendwann hieß alles House. Techno nahm Kontakt zu seinen historischen Vorläufern in der neuen Musik und der bildenden Kunst auf, von Stockhausen bis Xenakis. Techno verstand sich nun als ein musikalischer Stil, in dem es einen Fortschritt geben konnte: zu noch mehr Abstraktion. Zur Selbstreflexion der digitalen Produktionstools. Als gesellschaftliches Programm, das von subjektzentrierter Kunst wie Rock-Musik zu asubjektiven Prozessen und Verkettungen schreitet. Oder als Bestandteil einer digitalen Kultur, zu der das Internet ebenso gehörte wie Computerspiele, der selbstproduzierte Track und die Nebentätigkeit als DJ.

All dies begann während der 90er Jahre und verzweigt sich seitdem, mittlerweile ohne Zentrum, im unüberschaubaren Netzwerk digitaler Kultur. Bald aber wird man wieder von Techno reden. Nur anders, nämlich so wie man 1975 über Rock’n’ Roll sprach: als Urteil über eine bestimmte Gefühlsqualität, nicht als Bezeichnung eines Genres oder eines erfolgreichen kulturellen Formats: „Das ist so techno.“

Der Moment, in dem eine Gattungsbezeichnung nicht mehr einen musikalischen Tatbestand beschreibt, sondern einen bestimmten Geist, taucht zwar immer nach der konstitutiven Phase dieser Gattung auf, aber er steht gleichzeitig für den Beginn ihrer Klassik. Und wirkt zurück auf die musikalischen Tatsachen. Die Jazz-Geschichte nahm auch erst richtig ihren autonomen Lauf, als das Jazz-Age, die 20er Jahre, vorüber waren. Sehr viel später kommt dann noch der Moment, wenn sie anfangen Parfüms und Zigaretten „Techno“ zu nennen.

Diedrich Diederichsen

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