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Kultur: Ja = nein

Mainstream und Quantenphysik: Claudia Lehmanns „Schilf“ – nach einem Roman von Juli Zeh.

Als der Physikprofessor Sebastian Wittich (Mark Waschke) seinen Sohn Nick ins Ferienlager bringen will, verschwindet der plötzlich an einer Raststätte. Von einem anonymen Anrufer wird Sebastian aufgefordert, einen Mediziner namens Dabbeling umzubringen. Jedenfalls versteht er das so. Tatsächlich hat der Anrufer etwas anderes gesagt. „Schilf“– nach Juli Zehs gleichnamigem Roman – verharrt hier wie der Tennisball, der in Woody Allens „Matchpoint“ auf dem Netz tänzelt. Das Universum schwebt zwischen zwei Zuständen und entscheidet sich: Wittich wird zum Mörder.

Claudia Lehmanns Physik-Thriller liegt ein Dilemma zugrunde, das zu einem berühmten Gedankenexperiment der Physik passt: Der Physiker Erwin Schrödinger stellte sich eine Katze vor, eingeschlossen in einem Kasten mit einem Geigerzähler, einem Behälter mit Giftgas und einem radioaktiven Atomkern. Zerfällt der Atomkern, so registriert das der Geigerzähler, das Giftgas wird freigesetzt, die Katze stirbt. Die klassische Physik sagte: Nach Ablauf der Halbwertszeit ist der Atomkern mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent zerfallen, die Katze mit derselben Wahrscheinlichkeit tot oder lebendig.

Mitte des 20. Jahrhunderts aber waren Forscher bis zu den Bausteinen der Materie vorgedrungen und hatten dort eine ganz andere Regelwelt vorgefunden, als der Mensch sie bislang kannte. Die Quantentheorie sagte, dass der Atomkern nach Ablauf der Halbwertszeit in einem überlagerten Zustand ist: Er ist zerfallen und auch nicht zerfallen, Schrödingers Katze zugleich tot und nicht tot. Erst wenn jemand den Kasten öffnet, „entscheidet“ sich das Universum gleichsam für einen der beiden Zustände.

Wittich versucht, eine umstrittene Erklärung des Experiments zu beweisen: die Viele-Welten-Theorie. Dieser zufolge spaltet sich das Universum dauernd in unzählige Paralleluniversen auf. Für Schrödingers Katze heißt das: In dem einem Universum ist sie tot, im anderen ist sie lebendig – „Alles, was denkbar ist, existiert“, wie der Film-Untertitel verkündet. Sebastians Studienfreund Oskar (Stipe Erceg), theoretischer Physiker am Cern in Genf, hält das für Unsinn. „Dann wäre niemand je für seine Entscheidungen verantwortlich“, herrscht er Sebastian in einer TV-Diskussion an.

Schon Zehs Roman war eine Versuchsanordnung – mit von ihren komplizierten Konzepten reichlich plattgedrückten Charakteren. Der Film hält sich gnadenlos an die Hauptidee: Was, wenn die „Viele-Welten-Theorie“ stimmt? Und schon werden die Figuren bloße Mittel zum Zweck, wie Atome im Teilchenbeschleuniger. Interessant ist allenfalls, was passiert, wenn sie aufeinanderprallen. Immerhin: Durch die konsequente Reduzierung gewinnt der Film – auch gegenüber dem Roman.

So wie Wittich zum Tatort zurückkehrt, so kehrt auch „Schilf“ immer wieder zur Überlagerung, zum Sowohl-alsAuch zurück. Der Anrufer sagt Dabbeling, und er sagt es nicht. Nick ist entführt und nicht entführt. Sebastian macht sich schuldig und bleibt unschuldig.

So wird auch der Film zusätzlich zu seinem Gegenteil: ein gelungenes deutsches B-Movie und ein blutleerer ScienceFiction-Tatort. Er gleicht dem Hamster, den Wittichs Sohn Nick in einen Pappkarton sperrt, um Schrödingers Experiment nachzuahmen. Ist der Hamster jetzt tot oder lebendig?, fragt er den Vater. Die Antwort: „Ich weiß es nicht.“

Cinemaxx, Filmkunst 66, Rollberg und

Kulturbrauerei

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