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Literatur als Selbsttherapie. Die Schriftstellerin Jeanette Winterson.

© David Rose

Jeanette Winterson: Lichtschnur aus Wörtern

Dämonenjagd in Nordengland: Jeanette Winterson und ihr packendes Erinnerungsbuch „Warum glücklich statt einfach nur normal?“

Sechs Bücher. Mehr gibt es nicht im Haushalt der Familie Winterson. Wichtig ist ohnehin nur eines: die Bibel. Jeden Abend liest Mrs. Winterson ihrem Mann und ihrer Tochter Jeanette eine halbe Stunde daraus vor. Beginnend bei der Genesis, endend bei der Offenbarung, ihrem Lieblingskapitel. Nach einer einwöchigen Pause beginnen die Lesungen von vorn.

Die Wintersons gehören der evangelische Pfingstgemeinde an. Die Tochter, die sie im Januar 1960 im Alter von knapp fünf Monaten adoptiert haben, soll einmal Missionarin werden. Dass daraus nichts wird, Jeanette stattdessen in Oxford studiert und schließlich beginnt, Bücher zu schreiben, hat viel mit ihrer literaturfeindlichen, strengen und hyperreligösen Erziehung zu tun. Ohne dieses Umfeld gäbe es die Schriftstellerin Jeanette Winterson vielleicht gar nicht. Das legt sie zumindest in ihrem Erinnerungsbuch „Warum glücklich statt einfach nur normal?“ nahe, in dem sie ihre Kindheitshölle ohne Larmoyanz beschreibt.

Die Familie lebt in Accrington, rund 30 Kilometer nördlich von Manchester, in einem Reihenhaus mit Außentoilette und ohne Bad. Jeanette wird geschlagen und manchmal über Nacht ausgesperrt. Sie ist oft hungrig und muss lange Fußmärsche zur Schule und zur Kirche bewältigen. Es ist eine harte Arbeiterklassenwelt, die eine größere Nähe zum Universum von Charles-Dickens-Romanen zu haben scheint, als zu den gleichzeitig in London tobenden Swinging Sixties. Ein ähnliches Gefühl vermittelte schon Wintersons Debütroman „Orangen sind nicht die einzigen Früchte“, der 1985 erschien und in England zu einem Überraschungserfolg wurde. Er gewann mehrere Preise und machte die Autorin bekannt, vor allem nach der Serienadaption durch die BBC.

Jeanette Winterson beschrieb das Buch einmal so: „Ist ,Oranges’ ein autobiografischer Roman? Nein, überhaupt nicht und ja, natürlich“. Bei der Lektüre von „Warum glücklich...“ erschließt sich nun besser, wie das gemeint und warum ihr Debüt so stark war: Winterson hat ihre Erfahrungen darin kunstvoll verdichtet.

In beiden Büchern schildert sie etwa den dreitägig Exorzismus, den ihre Mutter an ihr vornehmen lässt, weil sie eine Liebesbeziehung zu einer Freundin hat. Im Roman unterhält sich die Protagonistin, die ebenfalls Jeanette heißt, während sie eingeschlossen ist, ausführlich mit dem Dämon, von dem sie angeblich besessen ist. Er zeigt sich als gewitzter Berater und verschwindet dann plötzlich. Im Erinnerungsbuch heißt es schlicht: „Nachdem ich drei Tage bei zugezogenen Vorhängen ohne Heizung und Essen ins Wohnzimmer gesperrt worden war, war ich ziemlich sicher, dass ich keinen Dämon hatte.“ Jedenfalls nicht den, den Mrs. Winterson in ihr vermutet, wie sich im hinteren Teil des Buches herausstellen wird.

Natürlich gestaltet Jeanette Winterson auch hier ihren Stoff, sie weiß, wie man eine Geschichte erzählt, und sie tut es auf mitreißende Weise. Diesmal liegt ihr Fokus weniger auf der Welt des religiösen Wahns als auf der Selbstrettung aus dieser Welt mit der Hilfe der Literatur. Winterson beschreibt sich als Verlorene, die sich lesend und schreibend einen Weg ihn die Freiheit bahnt. „Ich hatte Sätze in mir – eine leitende Lichtschnur. Ich hatte die Sprache.“ Mit ihr flüchtet sie in ein buntes Fantasieland, wenn sie wieder mal eine Strafe im feuchten Kohlenkeller absitzt. Außerdem kauft sie heimlich Bücher, die sie unter ihrer Matratze sammelt. Als ihre Mutter dahinterkommt, verbrennt sie die gesamte Kollektion im Hof.

Aber da ist ja noch die Bibliothek, ihr Paradies. „Ich hatte keine Ahnung, was ich lesen sollte oder in welcher Reihenfolge, also begann ich alphabetisch. Gott sei Dank war ihr Nachname Austen...“ Wintersons Ton enthält immer wieder solche humorvollen Aufhellungen, die Härten abmildert. Es ist ohnehin kaum vorstellbar, wie sie den heimischen Horror überstanden hat. Mit 16 Jahren wird sie rausgeworfen, weil sie weiter mit einem Mädchen zusammen ist. Diese Liebe mache sie glücklich, sagt sie zu ihrer Mutter. Worauf diese mit dem titelgebenden Satz „Warum glücklich statt einfach nur normal?“ reagiert.

Im letzten Drittel macht die Autorin einen großen Zeitsprung ins Jahr 2007. Ab hier wird sie sehr ernst, Auflockerndes fehlt völlig, denn sie berichtet von einer existenziellen Krise, die von zwei Ereignissen ausgelöst wird: Ihre Geliebte verlässt sie nach sechs Jahren, und sie findet ihre Adoptionspapiere in den Unterlagen ihres verstorbenen Vaters – Mrs. Winterson lebt ebenfalls nicht mehr. Auf dem Formular ist ihr ursprünglicher Name durchgestrichen.

Sie hatte bis dahin nie nach ihrer Herkunft geforscht und ihre Vergangenheit quasi überschrieben. Als sie sich mit dem fehlenden ersten Kapitel ihrer Lebensgeschichte konfrontiert sieht, kommt ihr wahrer Dämon zum Vorschein. Der lässt sie langsam verrückt werden, wie sie schreibt. Ihren depressionsähnlichen Zustand will die Autorin im Februar 2008 mit einem Selbstmord beenden, der jedoch misslingt. Also macht sie sich zum zweiten Mal auf den Weg zu ihrer eigenen Rettung. Er gestaltet sich mindestens genauso hart, vielleicht sogar noch härter als der erste, denn diesmal begibt sie sich ins Zentrum ihres Traumas. Das frühe Verlassenwerden, das Gefühl des Nicht-Gewolltseins und die ewige Frage: Wer hat mir das angetan? Sie beginnt, nach ihrer biologischen Mutter zu suchen. Ein nervenaufreibender Prozess, der ihrem Buch eine fast krimihafte Spannung verleiht.

Wieder hilft Winterson die Sprache. Doch ganz allein kann sie es diesmal nicht schaffen. Und sie hat Glück: Mit der Psychotherapeutin und Autorin Susi Orbach tritt eine neue Partnerin in ihr Leben, die sie bei der Suche und bei dem Kampf gegen ihren Dämon unterstützt. Dass sie ihn am Ende besiegt, dafür ist nicht zuletzt auch dieses packende Erinnerungsbuch der Beleg. Nadine Lange

Jeanette Winterson: Warum glücklich statt einfach nur normal? Hanser Berlin. Aus dem Englischen von Monika Schmalz. 250 S., 18,90 €. Lesung: Do, 11.4., 20 Uhr, Hanser Berlin, Friedrichstr. 210

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