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Kultur: Jedem Ende wohnt ein Zauber inne

Glut des Verderbens: Christian Thielemann und Tankred Dorst beschließen den Bayreuther „Ring“

Es ist geschafft. Der zweite Bayreuther „Ring“ im 21. Jahrhundert: musikalisch eine Erregung, ja Entdeckung, szenisch bestenfalls ein Papiertiger. Eine intellektuelle Pflichtschuldigkeit. Das eigentlich Enttäuschende: Dass dem Mythenwerker Tankred Dorst so gar nichts Närrisches, Weises oder Kühnes eingefallen sein soll, nichts die Oper oder Wagner Aufmöbelndes, irgend Verstörendes. Da hatten sich viele gerade von seinem Dilettantentum als Regisseur etwas erhofft (und ein bisschen etwas auch von der Gelassenheit des Alters). Inspirierenderes jedenfalls als einen Ritt durch die Rezeptionsgeschichte. Freieres als dieses dramaturgische Reißbrett. Schon zum jetzigen Zeitpunkt, heißt es, möchte Dorst 30 Prozent des Erarbeiteten ändern.

Nach sechseinhalb Stunden „Götterdämmerung“, nach dröhnender Schwüle und prasselndem Gewitter, nach großem, aber keineswegs hemmungslosem Jubel für Christian Thielemann und einigen typischen Sänger-Ungerechtigkeiten endlich der sensationslüstern erwartete Augenblick: Der Literat tritt vor den Vorhang (nach guter Bayreuther Tradition eben erst ganz zum Schluss). Ein wenig linkisch wirkt das, unordentlich, sympathisch ungeübt. Ein mittelprächtiger Buhsturm erhebt sich. Dorst blinzelt unterm Pudelschopf, tuschelt kurz mit Ursula Ehler, seiner Frau-Muse-Mitarbeiterin , und dreht dann, sein stolperndes Team im Schlepptau, lieber früher als später wieder ab. Nach vier, fünf Minuten noch einmal dasselbe Spiel.

Insgesamt dauert dieser Schlussapplaus eine knappe halbe Stunde. Für Bayreuther Verhältnisse ist das fast nichts. Zu erschöpft, so scheint es, sind die Menschen von der Hitze der vergangenen, nicht enden wollenden Wagner-Tage, gelähmt auch von den vielen Rat- und Tatlosigkeiten auf der Bühne. Dass Dorst und Thielemann sich kein einziges Mal gemeinsam verbeugen, ist bezeichnend. Für die Tiefe ihres persönlichen Zerwürfnisses, für den nornenseilartigen Riss zwischen der Musik und der Regie. Wobei gerade die „Götterdämmerung“, der dritte und letzte Tag des Bühnenfestspiels, für eine unverhoffte Annäherung, ein Fraternisieren sorgt. Aber da war es wohl für alle und alles längst zu spät.

Ein Schlussstein, der die Gewichte durchaus noch einmal verschiebt. Weil die „Götterdämmerung“ mit ihren Gibichungen-Szenen und mit Siegfrieds Tod wenigstens imitatorisch, simulierend im Regietheater der Gegenwart ankommt (warum nicht gleich so, fragt man sich). Und weil Thielemann, des vielen Lobes für seine Leichtigkeit des Seins, für seine Wagnersche Italianità entweder überdrüssigt oder davon aphrodisiert, dem Affen prompt ein paar Stückchen vom alten Zucker gibt. Etwa im basaltenen Auftrumpfen des Gibichungen-Chors (Leitung Eberhard Friedrich). Oder im Trauermarsch, der vor geschlossenem Vorhang ein wahrlich sonnenfinsternishaftes c-Moll im Saal entzündet: Tod und Verklärung eines Kraftkerls, der den Liebes-, nicht den Heldentod stirbt und dem alles heroisch-entseelt gen Walhall sich Reckende fremd ist. Und in Brünnhildes Schlussgesang, wenn die „starken Scheite“ alle Glut des Verderbens in sich tragen, von zahllosen Ritardandi und von Thielemanns Vorliebe für emphatische Generalpausen fast zu dick unterstrichen.

Beide übrigens, Linda Watson als Brünnhilde wie Stephen Gould als Siegfried, verfügen in diesem mörderischen dritten Akt über klaglose Reserven. Sie – ohne dass ihr das Magisch-Subversive der Partie je zu Gebote stünde – mit weniger schrillen Höhen als zuvor und mit freundlicher Anteilnahme am Geschehen – wenngleich Bernd Skodzigs Kostüm aus ihr mehr eine Mutti der fränkischen Nation macht als eine „heilige Braut“. Er mit viel Innigkeit im Abschied. Dass seine Spitzentöne nichts Metallisches, Blitzendes, himmelwärts Offenes haben, ist angesichts seiner runden Mittellage fast verschmerzbar. Das Festspielpublikum akklamierte Hans-Peter Königs bärenstarken Hagen und Mihoko Fujimuras plane, sehr allgemeine Waltraute am stärksten: Wer laut ist, hatte schon immer Recht. So gesehen schlug Alexander Marco-Buhrmesters Gunther sich tapfer, während Gabriele Fontanas Gutrune leider fast gänzlich ausfiel.

Man mag nun von Tankred Dorsts Ideen – Götter, Riesen, Zwerge als der Zivilisation eingeborene Fabelwesen, Märchen und Mythen, die in Parallelwelten nisten – halten, was man will. So unbedarft, wie es lange den Anschein hat, kommen sie letztlich nicht daher. Das entschuldigt zwar nicht die fehlende theatralische Leidenschaft der vier Abende, den Mangel an jedwedem beziehungsstiftenden Handwerk. Aber es macht die Sache in einem abstrakten Sinn doch interessant.

Befragt, worum es im „Ring“ gehe, hat Dorst in sämtlichen Vorverlautbarungen geantwortet: um den Tod. Der ist nicht von der Hand zu weisen. Ferrucio Busoni vernahm im Weltenbrand des „Götterdämmerungs“-Finales einen Klang, der den „irdischen Horizont streift“, und Thielemann kommt dieser Vorstellung in der überwältigend schönen, sehnenden Kraft des Sieglinden-Motivs bedenklich nahe. Dieser Weltenbrand löscht ja nicht nur die traurigen Götter aus: Auch Brünnhilde springt in die Flammen, auch Hagen, der mörderische Bösnick, wird Opfer der schäumenden Fluten des Rheins, und Siegfried und Gunther sind längst hingestreckt. Übrig bleiben, merkwürdig genug, Gutrune, die Dorst wie Loths Weib zur Salzsäule erstarren lässt, und Alberich, irgendwo in den Welteingeweiden. Und natürlich die Rheintöchter, deren Tändeln mit dem wieder gewonnenen Gold nicht Hohn ist und nicht Spott und in keiner Weise angekränkelt vom Gang der grässlichen Geschichte (jedenfalls bei Thielemann nicht), sondern ganz arglos froh. Hörner, Holzbläser, Streicher. Wie im „Rheingold“. Alles auf Anfang?

Dieser Tod meint und beschwört aber auch – und das wäre eine These, etwas zum Spekulieren – den Tod des Musiktheaters selbst. 16 Stunden lang wandelt der Mensch und Sänger zwischen den Resten und Ruinen der „Ring“-Geschichte umher und weiß weder sich noch dem Stück zu helfen. Wenn Tankred Dorst und sein Bühnenbildner Frank Philipp Schlössmann akribisch nicht nur in die Bayreuther Mottenkiste greifen, wenn von Wieland Wagner bis Peter Konwitschny so ziemlich alles herbeizitiert wird, was in der Rezeption irgend Spuren hinterlassen hat, stellt sich über kurz oder lang eine Art Querschnitt her, ein ästhetischer Status quo. Dieser „Ring“ macht sozusagen Inventur am eigenen Leib, fährt leere Räume, Autobahnbrücken, Klassenzimmer, Steinbrüche und, für die Gibichungen-Halle, neofaschistische Palazzi auf, steckt Siegfried ins stilisierte Bärenfell und Hagen in braune (!) Breeches – und bekennt sich zu allem und nichts. Anything goes. Nichts geht mehr.

Da wäre, wie ursprünglich von Dorst beabsichtigt, zum bösen Schluss das nackte, entkernte Bühnenhaus nur konsequent gewesen. Tabula rasa. Nach den ach so berüchtigten Regie- und Interpretationsexzessen der vergangenen Jahrzehnte ist die Zeit für neue, erfüllende Lesarten offenbar noch nicht reif. Oder sie kommt überhaupt nie wieder. Ein Menetekel, das uns das Fürchten hätte lehren können.

Dass Dorst ausgerechnet hier der Mut verlässt und er die Bühne keineswegs leer räumt, sondern sich noch einmal ausführlich an Chéreau weidet, stimmt freilich misstrauisch. Die Menschen, die die finale Feuersbrunst mit Sack und Pack fliehen, um kurz darauf mit Pack und Sack zurückzukehren und in den Saal zu starren: Sollten ihm solche Ikonen der Musiktheaterregie, sollten ihm szenische Etiketten wie der Neuenfels’sche Goldjüngling, wie Marthalers Lesender auf der Treppe oder Schlingensiefs tote Hasen in der „Götterdämmerung“ tatsächlich bloß unterlaufen sein? Was man als emsiger Operngänger sich eben so ergabelt und auf der Netzhaut endlagert?

So oder so: Dieser „Ring“ wird erstmals wieder den Namen eines Dirigenten tragen. Wie man vom Kupfer-, Kirchner- oder Flimm-„Ring“ spricht (und nicht so sehr von den Herren Barenboim, Levine oder Sinopoli), so spricht man bis heute vom Furtwängler- und vom Keilberth- „Ring“. Auf dieses Treppchen ist Christian Thielemann gesprungen, indem er Richard Wagner aus dem klangästhetischen Karzer des 20. Jahrhunderts befreit hat. Mit scharfem Besteck und heißem Herzen. Weber, Mendelssohn, Richard Strauss standen dabei Spalier. Wir werden unsere romantischen Hörgewohnheiten ändern. Wir werden überhaupt wieder mehr über die Musik sprechen. Es gibt Wüsteres, was der Wagnerwelt geschehen könnte.

Natürlich wusste die Bayreuther Gerüchteküche gleich zu berichten, dieser Triumph sei ein vom „Alten“ lancierter, politischer Coup. Um Thielemann neben Katharina Wagner in der künftigen Festspielleitung zu installieren, wie auch immer. Das, mit Verlaub, dürfte schwierig werden, hört man doch die 28-jährige Wagner-Tochter Regisseure wie Schlingensief oder Konwitschny vor grimmigen Alt-Hügelianern flammend verteidigen. Da müsste der Berliner Thielemann seine Ästhetik wohl ein bisschen auf Linie bringen. Das müssen wir nach diesem „Ring“ alle.

Christine Lemke-Matwey

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