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Mit der deutschen Literatur aufgewachsen. Itzik Manger, gemalt von Arthur Kolnik.

© Wikipedia

Jiddische Literatuir: Märchenprinz auf umherirrendem Schiff

Der europäische Kosmopolit Itzik Manger war einer der größten jiddischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Efrat Gal-Ed hat ihm nun eine Biografie gewidmet.

Mit der Vernichtung der Juden Osteuropas verschwand auch die rund tausend Jahre alte Sprach- und Lebenswelt des Jiddischen fast vollständig. Aus dem Mittelhochdeutschen hervorgegangen, wurde sie in der aschkenasischen Diaspora um hebräisch-aramäische und slawische Elemente angereichert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägte sie die Alltagskultur von mehr als zehn Millionen Menschen. Neben Czernowitz, Warschau oder Wilna war auch New York ein Zentrum des transnationalen „Jiddischlandes“.

Die Anfänge der jiddischen Literatur lassen sich bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen. Ihre Repräsentanten im 19. und 20. Jahrhundert heißen Mendele Mojcher Sforim, Jizchak Lejb Perez, Scholem Alejchem, Itzik Manger oder Isaac Bashevis Singer (Literaturnobelpreisträger von 1978). Wie vital die Sprache aber noch immer ist, zeigt sich an der Aktualität von Lehnwörtern im Deutschen: Mischpoke, Schickse, meschugge, Tacheles, Reibach, Kaff, Schlamassel oder Chuzpe. Auch Neuschöpfungen wie „blizbrif“ (für E-Mail) könnten Karriere machen. Für den französischen Archivar und Autor Gilles Rozier ist die jiddische Literatur zwar eine im Ozean „versunkene Stadt“, doch sie wartet „auf dem Grund des Wassers voller Ungeduld“ auf Taucher, die sie wiederentdecken.

Eine solche Taucherin ist die in Israel geborene und heute in Köln lebende Künstlerin und Dozentin Efrat Gal-Ed. Vor Jahren schon hat sie eine schöne Auswahl von Mangers lyrischen Texten („Dunkelgold“) mit kundigen Kommentaren herausgegeben, jetzt legt sie die erste umfassende Biografie dieses großen Dichters vor. Form und Inhalt ihrer fast 800 Seiten umfassenden Darstellung sind außergewöhnlich. Die Autorin verzichtet bewusst auf eine biografisch-chronologische Nachzeichnung, sondern bindet die „vorgefundenen Fragmente“ der Lebensgeschichte Itzik Mangers in den parallelen „Kontext“ der jiddisch-säkularen Kultur Osteuropas ein.

Dabei dient ihr die Form des Talmud (erzählender Haupttext und parallele Kommentarspalte) als Vorbild für die eigene Seitengestaltung. Aber Efrat Gal-Ed will nicht Leben und Werk des Dichters in den engen Rahmen von Talmudschule und Torarolle zwängen. Sie verweist auf die Traditionen des „polyphonen Buches“ und die „Zweistimmigkeit“ von Erzählen und Deuten in Mangers Texten. Czernowitz, wo der Schneiderssohn 1901 geboren wurde, aber auch Warschau, wohin es ihn nach dem Ersten Weltkrieg trieb, waren multikulturelle Orte. Manger hatte eine deutsche Schule besucht, war von Goethe und Heine beeinflusst, las Trakl, Rilke oder Brecht – und übersetzte Büchners „Woyzeck“ ins Jiddische. Seinen Umgang mit den jüdischen Erzvätern könnte man „familiär“ nennen. Er ließ das Alte Testament in jiddischen Versen neu erklingen und siedelte die biblischen Helden volksnah in einem osteuropäischen Schtetl an.

In seinem „Buch Ruth“ bringen der Witwe Noomi ein russischer Samowar und eine biblische Öllampe in interreligiöser Gemeinschaft Wärme und Licht. Sein Abraham verteilt verschwenderisch Trinkgelder, und Jakob umschmeichelt Rachel als „schöne Mademoiselle“. Selbst für den weltläufigen Marc Chagall war das zu „kumpelhaft“. Er weigerte sich, solche Balladenszenen zu illustrieren. Doch während viele jüdische Dichter aus der Bukowina – unter ihnen Paul Antschel (Celan) und die ebenfalls 1901 in Czernowitz geborene Rose Ausländer – ein deutschsprachiges Werk hinterließen, blieb Itzik Manger bis zuletzt ein jiddischer „Märchenprinz“.

Allein in seinem Warschauer Jahrzehnt von 1928 bis 1938 entstanden in dieser herrenlosen und vogelfreien „Hefker-Sprache“ sechs Gedichtbände, Prosatexte, Essays, ein Theaterstück, Filmlieder und wenige Wochen vor dem deutschen Überfall der Romanwelterfolg „buch fun gan-ejden“ (Das Buch vom Paradies). In den folgenden Jahren, als der Holocaust Mangers Familie, seine Heimat und die meisten seiner Leser vernichtete, wurden auch seine Bindungen an die deutsche Kultur zerstört.

Seine Erkenntnis aus dem Jahr 1940: „In meinen Träumen sehe ich Goethe mit einem Gummiknüppel in der Hand, Kant in einer SS-Uniform, sehe Faust mit einer Hakenkreuzbinde auf dem rechten Arm – und Blut, Blut, Blut, jüdisches Blut.“ Im englischen Exil erschienen noch zwei Gedichtbände, doch in den USA, wo er seit 1951 lebte, besaß er kaum noch Schaffenskraft. Einsamkeit und Krankheit lähmten ihn. Seine letzten Jahre verbrachte er in Israel, wo er 1969 starb.

Symbolisch für die tragischen Exilerfahrungen ist Itzik Mangers Postkarte aus Algier vom 18.12.1939. Sie zeigt sein Flüchtlingsschiff im Hafen und die verzweifelte Botschaft „da bin ich weg ein Reisender auf einem umherirrenden Schiff nach Eretz … Wer weiß wann? Wo? Was?“ Das große Verdienst der Biografin ist es aber, daran zu erinnern, dass Mangers Traum vom „Jiddischland“ ein moderner „kosmopolitischer Entwurf“ war, eine höchst aktuelle Europaidee „jenseits des Gegensatzes von Eigenkultur und Fremdkultur“.

Efrat Gal-Ed: Niemandssprache. Itzik Manger – ein europäischer Dichter. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2015. 784 Seiten, 44 €.

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