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John Eliot Gardiner mit dem Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists in Berlin.

© Carolina Redondo/Musikfest

John Eliot Gardiner in der Philharmonie: Siehe da, ein Erzähler

Musikfest Berlin: John Eliot Gardiner startet in der Philharmonie seine Monteverdi-Trilogie mit „Orfeo“.

Sir John Eliot Gardiner liebt ausgedehnte Entdeckungstouren, wie sie die Forschungsreisenden vergangener Zeiten unternommen haben. Ob er sich mit sämtlichen geistlichen Kantaten Bachs auf den Weg durch Europas Gotteshäuser macht oder jetzt mit den drei erhaltenen Opern Monteverdis von der alten in die neue Welt reist – dem britischen Dirigenten wird sein musikalisches Gepäck niemals schwer.

Um sich und seine Musikerinnen und Musiker unterwegs bei Laune zu halten, muss der 74-Jährige nicht zu verschärfter Würzung oder theatralischen Zurichtungen greifen. Die Kraft der Musik pulsiert stark im Monteverdi Choir und den English Baroque Soloists, jenen Ausnahme-Ensembles, die Gardiner über Jahrzehnte aufgebaut hat. Und die nun seine Vorstellungen so selbstverständlich tragen, dass der hochgewachsene Mann am rechten Podiumsrand mehr zum ersten Zuhörer denn zum Antreiber musikalischen Dramas wird.

Ein wütendes Tamburin knallt zwischen die Bläser

Allein wie Gardiner mit den „Orfeo“-Fanfaren den akustischen Raum in der Philharmonie aufreißt, beschert dem Musikfest Berlin einen ersten Höhepunkt. Aus historischen Bläsern, Streich- und Zupfinstrumenten wächst ein Klang empor, der deutlich einzeln wahrnehmbaren Sphären entstammt. Zwischen den Posaunen und Trompeten, die später die Unterwelt bevölkern, knallt mit wütender Wucht ein Tamburin, geschlagen vom überragenden Bass Gianluca Buratto. Er wird sich Orfeo auf seiner Suche nach der toten Eurydice als Charon entgegen stellen und als Pluto, dessen Bedingung für eine Rückkehr der Geliebten ins Leben Orfeo nicht erfüllen kann. Seine lyrische Welt, in der alles Gesang wird, schimmert in den Streichern auf, während von den gezupften Saiten das Verrinnen der Zeit tropft. Alles ist Musikdrama, das kein zusätzliches Theater mehr braucht. Denn Gardiners als „halbszenisch“ ankündigte Aufführung ist zugleich viel mehr und nichts weniger als das.

Völlig unverkrampft: Krystian Adam als Orfeo

Ein paar Auf- und Abtritte, eher angedeutete Kostüme und Lichtwechsel, dazu aus den individuellen Fähigkeiten der Darsteller entwickeltes Musizieren, etwa wenn Hana Blažíková als La Musica tatsächlich selbst in die Saiten der Harfe greifen kann. Dafür rächt sich, dass die Sängerin, die auch Eurydice singt, immer barfuß umhergehen muss, auch wenn es Herbst werden will. Blažíková ist als erkältet angesagt, bleibt ihren Partien aber dennoch nichts schuldig. Mit der Besetzung von Krystian Adam als Orfeo gelingt es Gardiner völlig unverkrampft zu zeigen, dass Monteverdi deshalb zum Ahnen des Musiktheaters wurde, weil seine Sprache über die Deklamation hinaus- weist. So sind auch Orfeos große Auftritte nicht von blendender Virtuosität, sondern besitzen die Gabe, etwas zu verflüssigen, im Angesicht von größter Freude und tiefstem Leid das Stocken zu überwinden. Siehe da, ein Erzähler, ein Mensch. Wie auch Lucile Richardot, deren Botenbericht das ausgelassene Hochzeitsfest zum Verklingen bringt. Was für Töne findet diese Sängerin für das, was unfassbar bleibt, wie sehr bewahrt sie die eben verronnene Süße, tastet durch die plötzliche Herbheit.

Diese Bewegung vollziehen Orchester, Chor und Solisten hochkonzentriert über gut zwei erfüllte Stunden, die absolut keiner Pause bedürfen. Weil man hier Zeuge werden darf, wie Bewusstsein entsteht. Als Orfeo beginnt, sich in ein Standbild seiner selbst zu verwandeln, als er, um sich als unerschütterlich treu zu preisen, alle Frauen schmäht, da weiß Apollo, dass es Zeit wird, seinen Sohn zu retten. Mit Furio Zanasi findet der Gott einen überaus würdigen Darsteller, einen, der alles gesehen und gesungen hat, einen wahrhaft Verständigen.

Die Musik avanciert zur Himmelsmacht

In Monteverdis Urfassung konnte Orfeo gerade noch vor den erzürnten Bacchantinnen fliehen, die ihn zerreißen wollen. Ein großes Festgelage beschloss in der Tradition des antiken Theaters sein klingendes Spiel, das am 24. Februar 1607 im Herzogspalast von Mantua erstmals gezeigt wurde. Doch der Komponist konnte mit dieser Version der Orfeo-Sage nicht zufrieden sein. Der trauernde Sänger, der sich vom Leben abwendet, muss bei ihm am Ende nicht dafür büßen, er darf musizierend in den Himmel aufsteigen und sich am ewigen Lauf der Gestirne erfreuen. Die Musik avanciert so zur Himmelsmacht, ihr Abglanz fällt auf uns, während rings umher alles vergeht auf Erden. Wir, die wir keinen Vater Apollo haben, finden bei Monteverdi Trost. Und bei Gardiners wunderbaren Musikerinnen und Musikern die Hoffnung darauf, dass er sich niemals abnutzen möge.

Gardiners Aufführungen von „Il ritorno d’Ulisse in Patria“ und „L’incoronazione di Poppea“ in der Philharmonie sind ausverkauft, aber der „Orfeo“-Fanfare kann man im Laufe des Musikfests noch einmal begegnen: Justin Doyle wird sie in seine Antrittskonzerte als neuer Chefdirigent des Rias Kammerchors einfügen, wenn im Pierre Boulez Saal und der Hedwigs-Kathedrale am 15. und 16. September Monteverdis „Marienvesper“ und seine „Missa in illo tempore“ erklingen.

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