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Jongleur: Sieben auf einen Streich

Für ihn war Jonglieren immer Arbeit. Schon mit neun ernährte Tuan Le seine Familie, indem er Bälle in die Luft warf. Heute ist er ein gefeierter Star am Broadway. Als Gegenmodell zur Depression des Alltags.

Das Glas, das vor ihm auf dem Tisch steht, wackelt. Tuan Les Hand hat es nur gestreift, er versucht, es noch zu halten, vergeblich, es fällt zu Boden – und dann ist es kaputt.

An einem gewöhnlichen Tag gehen in Ginas Bistro auf der Amsterdam Avenue in Manhattan wie in jedem Lokal etwa ein halbes Dutzend Gläser zu Bruch. Gina kennt das Geräusch. Das Klirren erschreckt sie nicht mehr. Aber in diesem Moment ist es anders. Das Glas ist Gina egal. „Tuan!“, ruft sie aufgeregt, „was ist mit dir los?“

Tuan lacht. Das kann doch mal passieren, sogar ihm, der jeden Tag bei Gina sitzt. Nein, sagt ihr Blick, kann es nicht. Tuan hat die geschicktesten Hände der Welt. Tuan Le ist Jongleur, einer der besten, vielleicht ist er der allerbeste, auf jeden Fall der einzige, der mit sieben Hüten jonglieren kann. Fünf sind schwierig, sechs schaffen nur wenige, sieben schafft nur Tuan Le. Meistens jedenfalls.

Gestern Abend, auf der Bühne des Beacon Theatre am Broadway, das hier gleich um die Ecke steht, da hat er es nach langer Zeit mal wieder nicht geschafft. Ein Patzer, weil er ein bekanntes Gesicht im Publikum entdeckt hatte. Die Konzentration war gestört, für einen kurzen Moment nur, und der Hut fiel zu Boden. Die Enttäuschung des Publikums war mit Händen zu greifen. Ein Jongleur, der an der Schwerkraft scheitert, ist eine überflüssige Figur. Bei Tuan Le waren sechs Hüte in der Luft und ein siebter, der alles kaputt machte. Aber darüber kann Le jetzt schon wieder lachen. Man betrachtet die Dinge anders, wenn man gerade erst von der International Jugglers Association als Bester seines Fachs ausgezeichnet wurden ist. Und wenn man ein Machetenattentat überlebt hat.

Tuan Le ist relativ klein, er ist höflich und unaufgeregt. Er ist nicht reich und auch politisch nicht aktiv. Dennoch sollte er umgebracht werden. Wer kommt auf so eine Idee?

Auch jetzt zum Lunch hat er einen Hut auf dem Kopf, an den Füßen trägt er Sandalen. Von Vietnam hat er es nach Berlin geschafft und dann weiter bis nach New York, ins Mekka der Artisten, an den Broadway. Wo man das Großartige liebt. Er hat es geschafft. Bis letztes Jahr war sein Leben ein ständiger Überlebenskampf, der 1977 in Saigon begonnen hat. Der Krieg ist seit zwei Jahren vorüber. Tuan Le ist der jüngste von drei Brüdern einer Künstlerfamilie, der Vater hatte bis zum Abzug der US-Truppen Jazztrompete gespielt, die Mutter stirbt, als Tuan eineinhalb Jahre alt ist. Das Geld ist immer knapp, und als der Vater auch noch durch eine Krankheit halbseitig gelähmt wird, muss der jonglierende, ältere Bruder das Geld für die Familie verdienen. Er bringt auch Tuan das Jonglieren bei, mit alten Tennisbällen, ein bis zwei Stunden täglich. Dann zertrümmert sich der Bruder bei einem Unfall das Knie und kann nicht mehr auftreten, wieder gerät die Familie in Not. Tuan Le ist neun Jahre alt, als er mit vier Tennisbällen in der Luft eine vierköpfige Familie ernährt.

Das ist lange her. Jetzt lässt Tuan Le in Ginas Bistro die Spaghetti- und Salatteller auf dem Tisch hin- und herwandern, und man begreift, dass Jongleure nie etwas anderes Tun, als die Dinge in Bewegung zu halten.

1991 darf Familie Le aus Vietnam ausreisen. Der Vater braucht ärztliche Behandlung. Die Les wählen Deutschland als Ziel. Tuan verbringt seine Jugend in Lankwitz als Asylant, wohnt mit Brüdern und Vater in einer kleinen Zweizimmerwohnung, teilt sich einen Raum mit dem kranken Mann. Heute sagt er, dass er sich nie gefragt habe, ob ihm die neue Situation nun gefalle oder nicht, er sei es immer schon gewohnt gewesen, zu kämpfen und das Beste aus seiner Lage zu machen.

Berlin aber wird für ihn mehr als ein Exil, es wird das, was er bis heute sein „Zuhause“ nennt. Seine Lehrer prophezeien Migrantenkindern wie ihm eine Zeit von zwei Jahren, bis sie sich halbwegs integriert haben; Le unterhält sich mit seinen neuen Freunden nach sechs Monaten fließend. In der Nachbarschaft lernt er einen Mann kennen, der in seiner Freizeit in einer Kirchengemeinde jongliert. Le schließt sich ihm an. Er begreift, dass Jonglieren das ist, was er immer am besten können wird – und trifft mit 17 Jahren eine Entscheidung fürs Leben: jonglieren oder nichts.

Durch einen Flyer wird er auf die Ufa-Fabrik aufmerksam, das alternative Künstlerdorf in Berlin-Tempelhof, das sich unter anderem um „Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen“ kümmert. In der familiären und kreativen Kommunenatmosphäre fühlt sich Tuan Le sofort wohl, er findet in Juppy, dem „Impresario“ der Ufa-Fabrik, einen Mentor. Der besorgt ihm einen Schlüssel für das dorfeigene Theater, und während die anderen beim Feierabendbierchen zusammensitzen, geht Le auf die Bühne, schaltet ein paar Lampen an und leise Musik. Zu Miles Davis und Keith Jarrett wirft er Bälle und Hüte in die Luft, so lange bis er einen Rhythmus findet und alles um sich herum vergisst. Auch denkt er nicht mehr über die Bewegungen nach, die Abläufe automatisieren sich, das Jonglieren wird zum Rausch. Als es vier Uhr früh ist, wird er müde und geht schlafen.

Tuan Le lebt im Dorf der Ufa-Fabrik in einem Wohnwagen, und bis heute kehrt er dahin zurück von seinen Tourneen. In den Neunzigern hauste im Wohnwagen nebenan ein Typ, der Komiker werden wollte, der aber Tag und Nacht nur auf der Couch lag, Sprüche klopfte und schlief. Die beiden wurden gute Freunde. Eines Tages dachte der Typ über einen Künstlernamen nach, weil er sich davon doch noch Erfolg versprach; fortan würde er sich Kurt Krömer nennen.

Wirkliches Talent spricht sich immer herum. Deshalb wird das Chamäleon Theater am Hackeschen Markt auch auf Le aufmerksam. Er bekommt seinen ersten Auftritt, mit fünf Bällen und drei Hüten, vor 200 Zuschauern. Er ist wahnsinnig aufgeregt. Und obwohl das Jonglieren für Le seit jeher Arbeit war, überwältigt er das Publikum und die Zirkuswelt ausgerechnet mit seiner ungewöhnlichen Leichtigkeit und Verspieltheit.

Fast könnte man meinen, er werfe mit den Gegenständen auch sein eigenes Leben immer wieder in die Luft. Wenn Walter Benjamin einmal bei der Betrachtung von Dürers „Melancolia“ erkannte, das Wesen der Schwermut sei es, dass die Dinge „des tätigen Lebens am Boden ungenutzt, als Gegenstand des Grübelns liegen“, dann kann man Tuan Les Fähigkeit als Gegenmodell zur Depression des Alltags sehen. Alles fliegt, alles ist in Bewegung, was auf den Boden fällt, ist tot. Tuan Le hat seine Lebensfreude in eine Überlebenstechnik verwandelt.

Vielleicht verhält es sich auch andersherum. Es kann überwältigend sein, ein Gebilde aus fliegenden Hüten zu formen. So folgen Auftritte in Schweden und Frankreich, schließlich sogar beim renommierten Festival „Just for Laughs“ in Montreal. Le ist gut, aber für die Weltspitze fehlt ihm etwas, das Besondere, das Einzigartige. Es ist schließlich ein vietnamesisch-französischer Kollege, der Le vorschlägt, sich auf Hüte zu spezialisieren. Er kenne niemanden, sagt er, der mit mehr als sechs Hüten jonglieren könne; wenn Tuan Le das schaffe, könne er weltberühmt werden. Die beiden probieren es aus, doch es ist kompliziert: Zu Beginn der Nummer hat Le bereits je zwei Hüte in beiden Händen, einen auf dem Kopf und einen auf dem angewinkelten Knie. Wohin mit dem siebten?

Tuan Le fährt zurück nach Berlin. Er schlägt die Gelben Seiten auf und sucht sich unter „Hutmacher“ einen Laden heraus, der mit der U-Bahn gut zu erreichen ist. Er findet ein Geschäft in der Güntzelstraße und bittet die Hutmacherin, ihm die Hüte genau so zu machen, wie er sie für seine neue Aufgabe braucht – mit dem richtigen Gewicht, der optimalen Form, und in Rot, damit sie auch in der letzten Reihe noch zu sehen sind.

Die fertigen Hüte fühlen sich gut an. Und er findet auch einen Platz für den siebten. Er legt ihn angewinkelt auf den sechsten auf dem Knie, trainiert noch mehr als zuvor, und schließlich schafft er es, alle sieben in die Luft zu werfen, sie kreisen zu lassen und wieder aufzufangen. Tuan Le wird berühmt, der siebte Hut ist bis heute seine ganz große Nummer. Das Publikum wird still, wenn sich die Hüte auf ihm stapeln. Es klappt nicht immer beim ersten Versuch, sagt Le, es ist wie mit einem Hundertmeterläufer: Der kann auch nicht an jedem beliebigen Tag unter zehn Sekunden laufen.

Die Hutmacherin ist mittlerweile in Rente gegangen, nur für Tuan Le fertigt sie bis heute noch ein paar Mal im Jahr neue rote Hüte, die sie ihm dann aus ihrer Wohnung in Lichterfelde-Ost um die halbe Welt hinterherschickt.

Bei Gina geht wieder die Tür auf. Die drei Clowns aus der Show vom Vorabend kommen herein und setzen sich an den Nebentisch. In ihrer Art, die Kellnerin aufzuziehen, erinnern sie an Vince Vaughn in seinen Buddy-Komödien. Während für die drei anscheinend 24 Stunden am Tag Showtime ist, sind es für Tuan Le nur sechs Minuten, jeden Abend. Vielleicht trug er seine Ruhe schon immer in sich, vielleicht aber auch erst seit knapp einem Jahr, seit jener Nacht, in der sein Leben beinahe zu Ende gewesen wäre. Es war die Nacht des Attentats.

Im August 2009 hatte Le das Angebot erhalten, mit dem Cirque du Soleil in New York aufzutreten, am Broadway, mit dem siebten Hut. Er war zu dieser Zeit in Hanoi, um dort eine weitere internationale Show vorzubereiten. Le hatte geprobt an diesem Tag und dann ein bisschen gefeiert, es war spät geworden, als er sich auf seinen Motorroller setzte, um zurück ins Hotel zu fahren. Er hielt an einer Ampel, bester Laune, die Proben waren gut gelaufen – und der Broadway, das sollte der Ritterschlag für ihn als Artist werden. Tuan Le stand kurz vor dem Ziel seiner Träume.

Dann kommt neben ihm ein zweiter Roller zum Stehen. Daruf sitzen zwei Männer. Ihre Maschine heult auf, und weil Le in Gedanken ist, bemerkt er nicht, wie der hintere der beiden Männer eine Machete zieht. Er holt kurz aus und sticht auf Le ein. Von hinten, zweimal, die Klinge zischt in seinen Körper, verfehlt den Lungenflügel knapp. Dann rast die Maschine davon.

Tuan Le ist schwer verletzt, er wird notoperiert. Es gibt keine Erklärung für den Überfall. Dass er gemeint war, weil jemand ihm seinen westlichen Lebensstil neidete, glaubt er selbst. Aber es könnte ihn auch nur zufällig erwischt haben. Heute sagt Le, er habe keinen Moment lang daran gedacht, dass seine Karriere vorbei sein könnte. Schon zwei Wochen nach der Operation begann er wieder mit dem Training. Die Ärzte waren dagegen. Aber was wussten die Ärzte schon vom Broadway?

Jonglieren oder nichts. Die Hüte müssen in Bewegung bleiben. Erst fünf, dann sechs. Und wenn es ein guter Abend ist, wird er vielleicht auch den letzten in die Luft werfen, den knallroten siebten. Und wenn es richtig gut läuft, auch wieder auffangen.

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