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Das Bühnenbild des Malers Guillaume Bruère taucht die zwölf Tänzer in ein Farbbad.

© Bernd Uhlig

Jubel für Sasha Waltz: Wühlen im Triebgrund

Hundert Jahre nach der Pariser Skandal-Premiere des Tanzklassikers "Sacre du Printemps" werden Sasha Waltz und Daniel Barenboim für ihre Neuversion an der Berliner Staatsoper gefeiert. Und Waltz dürfte bald mehr Geld für ihre Company bekommen.

Von Sandra Luzina

Bei der Uraufführung vor hundert Jahren versetzte „Le Sacre du Printemps“ das Pariser Publikum in Aufruhr. Welche Sprengkraft das Werk auch heute noch besitzt, bewies nun Sasha Waltz bei der umjubelten Berlin-Premiere ihrer Neuinterpretation. Lange mussten die Hauptstädter auf das Tanz-Ereignis warten. Denn die international umworbene Choreografin hat ihre Version zunächst mit dem berühmten Mariinsky-Ballett einstudiert. Den St. Petersburgern gehörte das Recht der ersten Nacht. Am 29. Mai wurde die Waltz-Kreation dann zusammen mit einer Rekonstruktion von Nijinskys Choreografie im Pariser Théâtre des Champs-Elysées aufgeführt.

Für die Berlin-Premiere im Schiller Theater hat Waltz ihre Choreografie nun mit den Tänzern ihrer eigenen Compagnie einstudiert – ergänzt durch zahlreiche Gäste. Und sie hält einen besonderen Trumpf in der Hand: Mit Daniel Barenboim steht ein feinsinniger Energetiker am Pult. Zum ersten Mal arbeiten die beiden Weltstars zusammen, und so sind viele Prominente aus Politik und Kultur erschienen, darunter auch die Schauspielerin Natalie Portman mit ihrem Mann, dem designierten Pariser Ballettchef Benjamin Millepied.

In „L’Aprés-midi d’un Faune“ taucht der französische Maler Guillaume Bruère die zwölf Tänzer in ein Farbbad. Der Bühnenprospekt leuchtet in Rot, Gelb und Grün. Geometrisch gemustert sind auch die Trikots, die an Badeanzüge erinnern. Zunächst überrumpelt diese Anmutung. Doch dann erliegt der Betrachter der Verführungskraft dieser modernen Faune und Nymphen. Wunderbar, wie die Staatskapelle die Klangfarben von Debussys Musik aufleuchten lässt. Und Sasha Waltz gelingt es von Anfang an, eine erotische Spannung aufzubauen.

Mit „L’Après-midi d’un Faune“ von 1912 knüpft sie an eine weitere skandalumwitterte Choreografie von Vaslav Nijinsky an – eine angedeutete Masturbation erregte damals die Gemüter. Hier drücken die Tänzer mit jeder Faser ihres Körpers ein ungestilltes Verlangen aus. Zu Beginn sieht man ein Paar beim Liebesakt, doch Waltz geht es um das Imaginäre des Begehrens. Mit aufreizender Langsamkeit bewegen die Faune und Nymphen sich aufeinander zu, sie winden und verwringen sich, gleich Nijinsky räkeln sie sich lasziv auf dem Boden. Doch nie gleiten die Szenen ins Schwülstige ab.

Mit dem Pas de deux „Scène d’Amour“ – etwas brav getanzt von Emanuela Montanari und Antonio Sutera von der Mailänder Scala – gönnt Waltz dem Publikum eine Verschnaufpause. In „Sacre du Printemps“ werden dann die elementaren Energien entfesselt – mit einer Vehemenz, die einem den Atem raubt.

Strawinskys Musik mit ihren vertrackten Rhythmen und dissonanten Schichtungen entlädt sich in der Interpretation von Barenboim und der Staatskapelle als blitzendes, donnerndes Klanggewitter. Der Gewalt aus dem Graben weiß Sasha Waltz durchaus etwas entgegenzusetzen: Die 28 Tänzer stampfen, zucken und stürzen sich in einen kollektiven Taumel. Es sind düstere Ekstasen, zu denen Waltz ihre Tänzer aufstachelt. Von Naturanbetung findet sich hier keine Spur, auf der Bühne zeigt sich einzig ein schwarzer Geröllhaufen. Waltz beleuchtet die dunklen Seiten der Sexualität.

In der Zusammenarbeit mit der eigenen Companie fügt sie ihrem Werk eine weitere Dimension hinzu. Erneut unterstreicht sie den Aspekt der Mutterschaft. Wie die Choreografin die entfesselte Menge gestaltet, in der das Individuum untergeht, ist grandios und beklemmend. Die ebenso energetischen wie expressiven Waltz-Tänzer steigern sich in einen Furor und verleihen dem Tanz eine andere Dringlichkeit. Es wirkt unglaublich brutal, wie die Männer eine Frau ergreifen, emporschleudern und über die Bühne schleifen. Aber die Männer sind hier nicht nur Täter. Alle Blicken richten sich auf Maria Marta Colusi. Sie ist keine Erwählte, sondern Ausgegrenzte. Der Tanz des Opfers ist in seinem wilden Aufbegehren, seiner nackten Verzweiflung kaum auszuhalten. Die Zivilisation, zeigt Waltz, ist nur eine dünne Schicht.

Der Abend wird zum Triumph für Waltz und Barenboim. Nach der aufwühlenden Vorstellung gibt es ein Küsschen für die Choreografin. Der Dirigent findet bewegende Worte. Die Zusammenarbeit sei für ihn ein „großes Glück“, sagt er. Und ruft Waltz zu: „Ich hoffe, du wirst noch öfter zu uns kommen.“ Ein Wink an die Kulturpolitik. Anfang des Jahres hatte Waltz Alarm geschlagen. Sie sehe keine Perspektive mehr für sich in Berlin, sagte sie. Die Politik blieb bei ihrer harten Haltung. Doch nun scheint sich etwas zu bewegen. Bis zum 20. November entscheidet sich, ob das Budget aufgestockt wird – von einer Million Euro ist die Rede. Sasha Waltz ist in diesem Jahr 50 geworden, sie kann auf 20 Jahre mit ihrer Compagnie zurückblicken, sie hat die Stadt bewegt – immer aufs Neue. Berlin wäre verrückt, ließe es eine Künstlerin von ihrem Format gehen.

Staatsoper im Schiller Theater, wieder am 2. November.

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