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Seumes „Spaziergang“ war ein Gewaltmarsch mit Räuberpistolen. Syrakus um 1880, Holzstich. Foto: picture alliance/akg-images

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Jubiläum: Der rastlose Reporter

Einer der abenteuerlichsten Autoren in der deutschen Literatur um 1800 - und der Spaziergänger nach Syrakus: Zum 250. Geburtstag von Johann Gottfried Seume.

Manchmal entlaufen die Helden den Büchern, in denen sie in die Welt gesetzt wurden, wie es etwa bei dem unsterblichen Don Quijote der Fall ist. Und manchmal reißen sich ganze Bücher von ihren Autoren los und machen auf eigene Faust Karriere beim Publikum. „Spaziergang nach Syrakus“ ist so ein Buch. Der Titel sagt auch Leuten etwas, denen zu dem Dichter Johann Gottfried Seume nicht gleich etwas einfällt.

Dabei war dieser am 29. Januar 1763 auf die Welt gepurzelte Seume einer der abenteuerlichsten Autoren, die in der deutschen Literatur um 1800 ihr Wesen, mitunter auch ihr Unwesen trieben. Er kämpfte sich als Kleine-Leute-Kind in die höhere Bildung hinauf und musste dann als Korrektor die Werke des lebenden Denkmals Klopstock betreuen, der vom Sockel seines Ruhms verächtlich auf ihn hinuntersah. Er strebte mit Inbrunst an die Universität und ging dennoch auf und davon, als er es im theologischen Schoß der Alma Mater nicht mehr aushielt.

Er brachte es zum anerkannten Schriftsteller und renommierte doch trotzig mit seiner Lebens- und Welterfahrung: „Viel gelebt und wenig geschrieben! Besser als umgekehrt.“

Er wollte eine französische Offiziersschule besuchen, weil in den deutschen Ländern die höheren Militärstellen dem Adel vorbehalten waren, und wurde als einfacher Söldner zwangsrekrutiert, an die Engländer verkauft und nach Neuschottland verschifft. Später wurde er zwangsweise Soldat in preußischen und noch später freiwillig in russischen Diensten. In dieser Rolle überlebte er mit knapper Not 1794 den Warschauer Aufstand gegen die russischen Besatzer, auf einem Dachboden hinter Fässern versteckt, die Schreie massakrierter Frauen und Kinder im Ohr. Seine täuschend sachlich betitelten „Nachrichten über die Vorfälle in Polen“ jagen einem noch heute Schauer des Entsetzens über den Rücken.

Er schrieb Gedichte, meistens eher schlechte, und verspottete sich selbst wegen seiner poetischen „Erbsünde“, wie er es nannte. Doch gelang seinen „Obolen“, so der Titel der lyrischen Sammlung, ein Achtungserfolg, der ihn schon vor dem „Spaziergang nach Syrakus“ bekannt machte. Was übrigens im „Faust“ des Olympiers Goethe das geflügelte Wort von des „Pudels Kern“ ist, das ist im Fall des Herumtreibers Seume das „seitwärts in die Büsche schlagen“. Auch die (nicht zutreffende) Sentenz „wo man singt, da lass dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder“ geht auf eines seiner Gedichte zurück. Das schönste unter ihnen ist einem Mädchen gewidmet, einem Mädchen aus Marmor, der holdseligen Hebe, Mundschenkin der Götter, von Canova in die Pose ewiger Anmut gemeißelt. Man kann sie in der Alten Nationalgalerie besuchen: „Ich stand, von süßem Rausche trunken,/ Wie in ein Meer von Seligkeit versunken,/ Mit Ehrfurcht vor der Göttin da,/ Die hold nach mir heruntersah.“

Bei den Mädchen aus Fleisch und Blut wurde es nichts mit süßem Rausch und Seligkeit. Zweimal verliebte er sich in reiche junge Frauen, die für ihn sozial und emotional unerreichbar blieben. Vor der einen rannte er über die Alpen davon, den italienischen Stiefel hinunter bis nach Syrakus; vor der anderen floh er nach Norden, umrundete die Ostsee, vermutlich als erster deutscher Reisender, und kehrte so rastlos zurück, wie er aufgebrochen war.

Die Tour nach Syrakus war kein „Spaziergang“, wie der Buchtitel behauptet, sondern ein Gewaltmarsch mit Räuberpistolen: ausgedachten, aber auch handgreiflich auf die Brust gesetzten. Der Bericht darüber kann als eine der ersten deutschen Reportagen angesehen werden, ein turbulenter, die Leserinnen und Leser in erfundene wie erlebte Abenteuer verstrickender Hochgeschwindigkeitstext, geschrieben mit fliegender Feder und pochendem Herzen.

Dieses Italienbuch kümmert sich wenig um Kirchen und Kunsttempel, es ist ein Straßen- und Wirtshausreport, eine Sozialreportage, bevor es die Gattung überhaupt gab. Außerdem ist es politisches Protestschreiben und aufrührerisches Pamphlet, eine Provokation für Adel und Klerus. Dann wieder gewinnt die Tonlage des halb melancholischen, halb komischen Pilgerberichts die Oberhand. Oder der Sound der Selbstfindung fängt an zu tönen, beschwingt von diesem aberwitzigen Verlangen aller großen Reisenden, sich unterwegs loszuwerden, um sich hinterher endlich gefunden zu haben. Manchmal weiß man beim Lesen nicht, wo einem der Kopf steht: Blicken wir Seume beim Schreiben nach der Rückkehr über die Schulter oder befinden wir uns noch mitten im Tumult des Erzählten, vom Erzähler an der Hand hinter sich her gezerrt?

Auch Seumes nordischer Reisebericht, erschienen unter dem Titel „Mein Sommer 1805“, ist ein menschlich aufwühlendes und politisch zorniges Buch. Es wurde gleich nach seinem Erscheinen in Russland, Österreich und in einigen deutschen Kleinstaaten verboten. Die ungemilderte Frontalkritik am Adel war für viele nicht hinnehmbar, so wenig wie sein Hass auf Napoleon, Verräter demokratischer Ideale und kriegerischer Usurpator, mit dem die deutschen Fürsten paktierten, um ihre Privilegien zu retten.

Autoren, die es wagten, ihre politische und soziale Kritik ohne die Schminke der Metaphern in aggressiver Direktheit unters Publikum zu bringen, setzten ihre bürgerliche Existenz aufs Spiel. Doch Seume konnte seine bürgerliche Existenz nicht aufs Spiel setzen – er hatte keine. Sein Besitz passte in die kleinsten Leipziger Mietsstuben, die er so häufig wechselte, dass man heute die halbe Stadt betäfeln müsste, wollte man an jedes Haus, in dem Seume einmal wohnte, eine Gedenktafel schrauben.

Wenigstens hatte er Familienanschluss bei Göschen, seinem Gönner und Chef, für dessen Verlag er sich mit Klopstock herumstritt, bevor er auf und davon nach Syrakus ging. Göschen setzte dem Aufbruch im Garten seines Hauses in Grimma bei Leipzig ein Denkmal, das heute noch zu sehen ist. Nur der Ausblick über das Tal der Mulde ist verbaut und nicht mehr so schön, wie er zu Seumes Zeiten gewesen sein muss.

Zur eigenen Verwandtschaft verhielt Seume sich eher distanziert, auch wenn er in seinen Schriften und Briefen viel, verdächtig viel Wesens um seine Mutter macht, verwitwet seit Seumes dreizehntem Lebensjahr. Wie er in seiner von ihm selbst nicht vollendeten Autobiografie „Mein Leben“ hervorhebt, war er ein ungestilltes Kind – und ein Mann von unstillbarer Sehnsucht, ließe sich hinzufügen, rastlos, getrieben, innerlich wie äußerlich unbehaust, vom Leben herumgeschubst, von der Liebe enttäuscht und schließlich von körperlichen Leiden grausam gequält. Mit den Frauen hatte er kein Glück, schon gar nicht mit der unberechenbaren Fortuna. Aber die Parze, die ihm schließlich den Lebensfaden abschnitt, tat dies auf besonders perfide Weise. Sie legte ihn, den als jungen Mann wider Willen übers Meer Verschleppten, im Juni 1810 zum Sterben ausgerechnet ins „Goldene Schiff“, ein Gasthaus im damals böhmischen Kurort Teplitz. Und selbst aus diesem Sterbebett wäre er fast noch vertrieben worden, denn seine Krankheit dauerte länger, als das Zimmer gebucht war.

In Teplitz, dem heute tschechischen Teplice wurde Seume auch beerdigt. Ein gewisser Professor Fichte soll unter den Trauergästen gewesen sein. In unmittelbarer Nachbarschaft von des Wanderers letzter Ruhestätte lockt die Leuchtreklame eines Spielcasinos Glücksritter an. Es trägt in unfreiwilliger Komik seinen Namen.

Von Bruno Preisendörfer ist kürzlich erschienen: „Der waghalsige Reisende. Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben“. Galiani Verlag, Berlin 2012, 378 S., 19,99 €. Am Sonntag, dem 3. Februar, um 12 Uhr liest der Autor daraus in der Berliner Buchhandlung Dante Connection (Oranienstraße 165).

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