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Jürgen Trittin wurde 1954 in Bremen geboren und erlebte dort als Schüler die große Aufbruchszeit des westdeutschen Theaters.

© Thilo Rückeis

Jürgen Trittin: "Den Hitler im Bunker könnte ich auch"

Das "Weiße Rößl" ist hochgradig unterhaltsam - und absolut politisch, meint Theaterliebhaber Jürgen Trittin. Ein Gespräch mit dem grünen Politiker über Regisseure, Schauspieler und die dramatische Kunst.

Herr Trittin, wir wollen mit Ihnen nicht über den Atomausstieg sprechen, sondern über Theater. Kaum einen Politiker trifft man dort so häufig wie Sie. Woher kommt diese Liebe zur Bühne?

Die kommt aus meiner persönlichen Geschichte. Erstens sind meine Eltern immer ins Theater gegangen, zweitens habe ich während meiner Jugend in Bremen einen Theaterclub in einem Jugendfreizeitheim geleitet, nachdem ich gelegentlich selbst auf der Schulbühne gespielt hatte. Dieser Club hatte mit dem Bremer Theater einen total guten Deal. Meine Eltern saßen mit ihrem Premieren-Abo in der 10. Reihe, und ich mit meinen Freunden aus dem Theaterclub in Parka und Cordhose vier, fünf Reihen davor.

Wenn wir richtig gerechnet haben, fiel Ihre Bremer Bühnensozialisation mit einer der fruchtbarsten bundesrepublikanischen Theaterperioden zusammen.

Ja, Ende der sechziger Jahre, mit Kurt Hübner als Intendant, Peter Stein als Hausregisseur, mit Peter Zadek, Wilfried Minks. Das prägt natürlich und versaut auch ein bisschen. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Fassbinder-Bearbeitung von Lope de Vegas „Das brennende Dorf“...

... ein Stück über einen spanischen Volksaufstand im 15. Jahrhundert, in dem sich die Aufständischen gegen einen tyrannischen Komtur zur Wehr setzen.

Der Abend thematisierte auf dieser Folie das Massaker von My Lai während des Vietnamkrieges, wo US-Soldaten ein Dorf überfallen, Leute umgebracht und viele Frauen und Mädchen vergewaltigt hatten. Ich werde nie vergessen, wie das Bremer Bürgerpublikum Türen knallend den Saal verließ. Damals konnte man Leute noch richtig aufregen mit Theater, weil sie das nicht ertragen haben.

Aber Sie haben frenetisch applaudiert?

Natürlich. Uns hatte man in der Schule erzählt, in Vietnam würde auch die Freiheit Berlins verteidigt, das haben Lehrer damals ernsthaft vertreten! Für uns war es eine sehr zutreffende Replik, dass man die Freiheit Berlins nicht mit Vergewaltigung und Massenmord verteidigen kann.

Gibt es noch andere Initiationserlebnisse aus Ihrer Bremer Theaterzeit?

Zum Beispiel eine sehr physische Erinnerung an Rainer Werner Fassbinder. Das Bremer Theater hatte neben dem Großen und dem Kleinen Haus eine Experimentalbühne, das Concordia. Dort inszenierte Fassbinder Marieluise Fleißers „Pioniere in Ingolstadt“, ein Antikriegsstück, in einer Raumbühne. Die Schauspieler saßen an verschiedenen Orten im Publikum, und ich hatte das Glück oder das Pech, ausgerechnet neben Fassbinder zu sitzen. Ich muss leider sagen: Er roch fürchterlich nach Schweiß! Klar, er hat gearbeitet, das Publikum sollte ja die Arbeit der Schauspieler aus der Nähe beobachten. Wir haben Fassbinder damals natürlich verehrt, auch als Filmregisseur, gerade wegen dieser langen und langsamen Einstellungen. Und dann sitzt er neben mir und riecht!

Hatten Sie damals einen Lieblingsregisseur oder -schauspieler? Das war ja eine Zeit, wo Politik und Ästhetik fast ideal in eins gefallen sind.

Vom Bremer Theater her war das ohne Zweifel Peter Zadek. Aber auch Wilfried Minks, den fand ich fast interessanter als die Hauskoryphäe Peter Stein. Bei den Schauspielern war es eine Mischung von Leuten, die auch in Filmen auftraten; so jemand Lakonisches wie der Fassbinder-Schauspieler Ulli Lommel oder Angela Winkler mit ihrer ruhigen, unpathetischen Art. Und natürlich Bruno Ganz, der stand da ja permanent auf der Bühne. Gerade weil ich ihn dort so oft erlebt habe, finde ich übrigens, dass er sich in diesem Film im Bunker ...

... Oliver Hirschbiegels „Der Untergang“ über die letzten Tage Adolf Hitlers ...

... unter Wert verkauft hat. Den kann jeder nachmachen. Selbst ich könnte das!

Wann haben Sie sich im Theater das letzte Mal gut unterhalten gefühlt?

Zum Beispiel beim „Biberpelz“ aus Schwerin, der zum Theatertreffen eingeladen war. Die Idee, aus dem Naturalisten Gerhart Hauptmann irgendetwas zwischen Henry Vahl und Dario Fo zu machen, fand ich genial! Und auch das gehört zum Theatertreffen. Pünktlich, wie auf Bestellung, kräht der Peymann dazwischen.

Und rät dem Regisseur Herbert Fritsch lautstark in den Schlussapplaus hinein, die Hände lieber vom Regieberuf zu lassen.

Ich fand es mutig, sich an einem Stück, das eigentlich ohne Ende ausgelutscht ist, neu zu versuchen und dabei auch hemmungslos der Spiel- und Sangesfreude nachzugeben. Das war provokativ, hatte einen hohen Unterhaltungswert und gleichzeitig eine politische Aussage.

Weil die Protagonistin Mutter Wolffen, die normalerweise als Underdog-Sympathieträgerin inszeniert wird, bei Fritsch keinen Deut weniger niederträchtig ist als die gesellschaftliche Elite?

Ja, da zeigt eine der Obrigkeit den Stinkefinger, und führt alle hinters Licht und ist selbst keine Heldin. Und man kann sich dabei köstlich unterhalten.

Ist Politik im Theater für Sie eine wichtige Kategorie?

Ich behaupte, wenn man die Geschichten über die bürgerliche Gesellschaft, die das Theater in Deutschland und Europa erzählt, gut inszeniert, kann man gar nicht unpolitisch sein. Noch die größte Klamotte enthält ja eine Botschaft über die Gesellschaft. Im „Weißen Rößl“ steckt zum Beispiel der kulturpolitische Clash zwischen Preußen und Bayern. Otto Sander hat das Mitte der Neunziger in der Bar jeder Vernunft abgrundtief böse gespielt. Hochgradig unterhaltsam, die Leute haben auf dem Boden gelegen vor Lachen, aber absolut politisch.

Um noch einmal auf den benachbarten Intendanten im Regierungs- und Parlamentsviertel zurückzukommen ...

Der Peymann muss doch dagegen sein! Wir haben bei uns in der Partei auch Leute, die immer irgendwelche Papiere schreiben müssen.

Aber Claus Peymann glaubt ja, dass das Theater – vor allem sein eigenes – weltverändernd sei. Er hat sich mal als „Reißzahn im Regierungsviertel“ bezeichnet.

Also das letzte Stück, das ich im Berliner Ensemble gesehen habe, war „Der zerbrochne Krug“. Den fand ich eher betulich.

Das berührt einen Vorwurf, den Kritiker dem Theater häufig machen: Dass politische und gesellschaftliche Vorgänge versimplifiziert werden; nach dem Motto: Kleiner Mann gut; Ackermann böse. Teilen Sie als Politiker diese Kritik?

Deswegen bin ich so ein großer Shakespeare-Anhänger: Weil es da komplex zugeht. Da ist niemand wirklich gut. Ein Macbeth ist Mörder und Verzweifelter zugleich; das ist eine vielschichtige Wahrheit. Natürlich kann man Shakespeare auch inszenieren wie das Hexenkessel-Hoftheater, als fröhliche Unterhaltung. Aber wenn man den Stoff ernst nimmt – an der Volksbühne liefen vor ein paar Jahren mal die gesamten Rosenkriege – ist das sehr differenziert und hoch politisch. Das Werden eines Königreichs, die Schicksale und Entscheidungszwänge, die damit verbunden sind, die Frage der Macht und ihres Preises, all das kann immer wieder eine Folie sein, sich mit Gegenwartsphänomenen auseinanderzusetzen. Manchmal spiegelt sich im Theater natürlich auch die Regression.

Woran denken Sie dabei konkret?

Dass vor drei, vier Jahren Tschechow so eine Konjunktur auf der Bühne hatte, passte zur neuen Bürgerlichkeit im Prenzlauer Berg. Man richtete sein Heim ein.

Tschechow ist doch kein BiedermeierAutor, der wird immer gespielt! Die schönsten Tschechows hat Zadek inszeniert!

Natürlich, ich habe auch gar nichts dagegen. Mir geht es nur darum, dass es Zeiten gab, in denen Tschechow mehr gespielt wurde, und Zeiten, in denen er weniger gespielt wurde. In den letzten Jahren hat er eine auffällige Blüte erlebt. Die russische Gesellschaft war in der Zeit, in der Tschechow schrieb, eine blockierte Gesellschaft; die Stücke entstanden in der Phase eines perspektivlosen Bürgertums. Wenn solche Stücke in einer bestimmten Situation plötzlich Konjunktur bekommen, sagt das etwas über die Gegenwart aus, genauso wenn in einer anderen Situation rauf und runter Brecht gespielt wird.

Zuletzt haben wir Sie in Karin Beiers Kölner Jelinek-Inszenierung „Das Werk / Im Bus / Ein Sturz“ beim Theatertreffen gesehen. Der Abend verquickt die menschliche Hybris gegenüber der Natur mit dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs, einem Münchner Busunglück infolge von U-Bahnarbeiten und dem Bau des Wasserkraftwerks im österreichischen Kaprun, bei dem in der Nazi-Zeit Hunderte Zwangsarbeiter starben. War das ein grünes Plädoyer?

Für mich hatte der Abend zwei Schwächen. Zum einen hat er drei Ereignisse zusammengepackt, die nicht zusammen gehören. Die Kaprun-Geschichte steht für sich. Das größte Wasserkraftwerk Österreichs - weswegen Österreich so stolz darauf ist, nur erneuerbare Energien zu haben - ist erkauft worden mit den Leichen von Zwangsarbeitern: Das war die ungeheuerliche Botschaft dieses Textes. Das kann man nicht augenzwinkernd verbinden mit dem Münchner Busunglück und dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs.

Und der zweite Punkt?

Jelineks unbedarfter Kotau vor einer nicht näher definierten Natur hat mich gestört. Das ist fast reaktionär. Weder der Tod und die Misshandlung von Zwangsarbeitern noch die Konstruktionsfehler, der organisierte Diebstahl, die Schlamperei in der Bauaufsicht beziehungsweise die gar nicht vorhandene Bauaufsicht haben etwas mit Natur zu tun. Es gibt tatsächlich eine menschliche Hybris gegenüber der Natur. Das erleben wir gerade 10 000 Kilometer von hier in schrecklicher Weise, und das muss man auch so thematisieren. Nur das, was der Abend verhandelt hat, war eben in vielen Punkten nicht die Natur, an der sich der Mensch versündigt, sondern menschliches Fehlverhalten. Es war aber dargestellt als Versündigung an der Natur.

Die Aufführung als grünen Theaterabend zu bezeichnen, würde Ihnen nicht gefallen?

Nein. Das würde nicht stimmen. Man kann mit Naturphänomenen und Risiken umgehen und auch von der menschlichen Hybris sprechen, ohne mit dem konkreten Fehlverhalten von Menschen davon abzulenken.

Der französische Philosoph Roland Barthes hat seine Bühnen-Erlebnisse in den Satz gegossen: „Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin.“ Könnte Ihnen das auch passieren?

Ja. Wenn es mich in eine Gegend verschlagen würde, wo es kein Theater gibt.

Das Gespräch führten Christine Wahl und Rüdiger Schaper.

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