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Jens Steiner

© Patrick Straub/dpa

"Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit" von Jens Steiner: Wer will was wollen

Surreale Verfolgungsgeschichte: Der Schweizer Schriftsteller Jens Steiner treibt in seinem Roman "Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit" ein raffiniertes Spiel mit der Entscheidungsfreiheit.

Ein Philosophiestudent in einem schäbigen Marseiller Hotel. An einem Septembertag hockt er hinter einem modrigen Vorhang, beäugt die Nachbarschaft und die Katze, die sich auf sein Fenstersims verirrt hat. Irgendwo draußen lauert sein Nachbar Klöppel, der ihn verfolgt, womöglich auch die Polizei. Er ringt um den nächsten „klugen Zug“, der Klöppel in die Knie zwingt. Aber wie kann er wissen, ob dieser Zug ihn nicht noch weiter von seinem alten Leben entfernt? Und wie konnte er, „ein junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit“, wie der Titel des Romans versichert, überhaupt in eine solche Situation geraten?

Damit beginnt Jens Steiners Verwirrspiel, dem ein harmloser Streich vorausgegangen ist. Paul und Magnus, Außenseiter an der Zürcher philosophischen Fakultät, die zu einer „Generation von Hasenfüßen“ gehören, im Herzen aber noch ein widerständiges „Flämmchen“ hegen, wollen den Medienzar Kudelka – mit Zügen des Basler Medienunternehmers Moritz Suter – entlarven, indem sie einen seiner Universitätsvorträge vor neoliberalem Publikum stören. Während Kudelkas Auftritt schaffen sie, ganz nach dem Vorbild der Kommunikationsguerilla der 68er, „eine Situation“ mit Paul als Drahtzieher im Hintergrund. Aber was als „Tag der Befreiung“ gedacht ist, entwickelt sich für Paul zu einem Albtraum. Obwohl der Streich zunächst ungeahndet bleibt, findet er sich plötzlich in einem undurchschaubaren Spiel wieder. Paul erfährt aus dem Fernsehen von Kudelkas Entführung, für die er verantwortlich sein soll.

Das Spiel mit dem freien Willen

Auf ominöses Geheiß hin dringt er in die Wohnung seines Nachbarn Klöppel ein, wird von diesem niedergestreckt und dort eingesperrt. Über ein klandestines Nachrichtensystem wird er aus dem Land geschmuggelt und gelangt nach Marseille. Wo er auf den „nächsten klugen Zug“ sinnt. Mit seinem dritten Roman nimmt der 1975 geborene Schweizer-Buchpreis-Träger Jens Steiner seine alten, schon in „Hasenleben“ und „Carambole“ durchgespielten Themen wieder auf und vertieft sie.

Jens Steiners neuer Roman: "Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit"
Jens Steiners neuer Roman: "Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit"

© promo

Zum einen geht es um seine eigene Generation, die „nichts glaubt tun zu müssen“ und wie Paul nur „andere Menschen parasitiert“. Zum anderen dreht sich alles um das schon in „Carambole“ aufgeworfene Spiel mit dem vorgeblich freien Willen des Menschen, beziehungsweise der Illusion, die das menschliche Gehirn von diesem erzeugt.

Die freie Marionette

„Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will“, schickt der Autor seiner als Kriminalklamotte verpackten Denkübung als Schopenhauer-Motto voraus. Und lässt seinem Spieltrieb freien Lauf: Da tauchen nicht nur Butz Atman, Schopenhauers berühmter Pudel, und Kafkas Torhüter auf, sondern auch ein Homunculus, von dem sich Paul Wegweisung verspricht: „Es ist ja nicht meine Aufgabe, dir zu helfen“, weist der Wicht mit der Knubbelnase dieses Ansinnen zurück. „Meine Aufgabe ist nur, dir zu zeigen, was ist.“

Paul fühlt sich erst als Marionette frei, um zu erleben, dass er tut, was er gar nicht will und nicht ist, was er zu sein scheint. Ein einziges Mal, nur eine Sekunde lang, wünscht er sich, dass das Spiel seiner Gesichtsmuskeln von dem im Spiegel abwiche, „dass es sich meinem Willen verweigerte, mir eine Antwort auf meine Ratlosigkeit gäbe.“

Auf der Weide der Gedankenwelt

In seiner Geschichte gibt es erst am Ende der Geschichte einen sich enthüllenden Spielleiter. Paul bleibt gar keine Wahl, außer immer weiter zu gehen, „vorwärts ist die Richtung“. „Sie wollen also wissen, welche Absichten einer hat, wenn er keine hat?“, fragt ihn ein alter Mann mit Pudel. „Der Gejagte hat seinen Verfolger gekränkt. Wenn die Absichten der Leute Verstecken spielen, steckt immer eine Kränkung dahinter.“

Eine Kränkung für die Älteren besteht darin, dass Pauls Generation keine Neigung mehr zeigt zum Vatermord. „Die Aufgabe eines Sohnes ist es, seinem Vater die Hosen abzusägen“, wird Paul aufgeklärt, „ihn bis auf die Knochen zu blamieren.“ Allmählich jedoch steigt in Paul die Ahnung auf, dass „das ganze Projekt und unsere ganze verkümmerte Generation nichts als die Idee seiner eigenen (Kudelkas) Generation“ war.

Nicht die surreale Verfolgungsgeschichte sorgt für Spannung in diesem Roman, sondern das Abenteuer der Denkbewegung, die ihn vorantreibt. Er „grast auf der Weide seiner Gedankenwelt“ mit einer Leichtigkeit, dass es eine wahre Freude ist.

Jens Steiner: Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit. Roman. Dörlemann Verlag, Zürich 2015. 237 Seiten, 20 €.

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