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© Prokino

Käfig Krankheit: Leben, ein Flügelschlag

Der Maler-Regisseur Julian Schnabel blickt in „Schmetterling und Taucherglocke“ in die Innenwelt eines gelähmten Mannes. Entstanden ist ein umwerfend unspektakulärer und zugleich aufwühlender Film.

Am Anfang ist das Alphabet. Es hat 26 Buchstaben wie das unsere, aber es geht etwas anders: ESARINTULOMDPCFBVHGJQZYXKW. Es ordnet die Buchstaben, wie sie in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit vorkommen (hier im Französischen). Wenn Jean-Do, der sich nur noch mittels Augenblinzeln verständigen kann, also etwas mitteilen möchte, spricht ihm die Logopädin dieses Alphabet vor, bis er mit den Augen blinzelt. Manchmal errät die Logopädin das Ende des Worts vorab – richtig? Einmal blinzeln heißt "ja", zweimal "nein". Jean-Do mag in seiner Taucherglocke leben, eingeschlossen in der Tiefe eines sonderbaren Ozeans, aber er ist mit der Welt verbunden, manchmal sogar sehr.

Der, den sie hier im Hôpital Maritime von Berck alle Jean-Do nennen, war vor kurzem noch Jean-Dominique Bauby: Chefredakteur von "Elle", Workaholic, Familienvater der lebenslustigen Art und unlängst zu seiner Geliebten gezogen. Lange her das alles, ein Leben lang fast. Am 8. Dezember hatte er einen Schlaganfall und wachte Mitte Januar aus dem Koma auf. Locked-in-Syndrom: Der Patient denkt und fühlt, ist aber sprechunfähig und fast völlig gelähmt. Total abgeschnitten von allem und allen, wenn das Augenblinzeln nicht wäre.

Eine tatsächliche, spektakuläre Geschichte. Geradezu übermenschlich aber mutet an, dass Bauby mittels jenes mühseligen Buchstabierdialogs in der Lage war, ein ganzes Buch zu diktieren. Als "Tagebuch meiner Reise auf der Stelle" hat Bauby seine Notizen bezeichnet, erdacht frühmorgens Kapitel für Kapitel und tagsüber seiner Lektorin buchstabenweise diktiert: Szenen aus der Taucherglocke, ironisch, aber nie sarkastisch, melancholisch, aber ohne Selbstmitleid. Und Szenen aus der Vergangenheit oder der Fantasie, wofür er die Metapher der Schmetterlinge erfindet. "Fast unhörbar" fliegen sie in seinem Kopf umher, "und doch höre ich sie immer deutlicher." Drei Tage nach der Veröffentlichung des Buchs stirbt Jean-Dominique Bauby am 9. März 1997, knapp 45 Jahre alt.

Genug Stoff für einen Kinofilm

Sein "Schmetterling und Taucherglocke" ist zum Bestseller geworden – aber lässt sich ein solches Dokument der Introspektion eines fast vollends Immobilisierten überhaupt verfilmen? Und wie. Und so umwerfend wie unspekulativ wie unspektakulär. Der Maler-Regisseur Julian Schnabel hat sich mit der unerhörten Verwandtschaftssicherheit des Künstlers dieses Stoffs bemächtigt und ihn auf geniale Weise fürs Kino wiedergeboren.

Ein Glücksfall in vielfacher Hinsicht. Schnabel hat seine Geldgeber aus dem Steven-Spielberg-Imperium überzeugt, in Frankreich mit Franzosen und auch in der Klinik am Ärmelkanal zu drehen, in der Bauby versorgt wurde. Er hat das vorgefundene Drehbuch (Ronald Harwood) der Wahrhaftigkeit der Klinikrealität ausgesetzt und weitenteils neu geschrieben. Er hat Hauptdarsteller Mathieu Amalric einen eigenen Voice-Over sprechen lassen, den Kommentar einer Bauby kongenial anverwandelten Seele: zart, grimmig, cool, intim. Und er hat in Janusz Kaminski einen Kameramann gefunden, der den Zuschauer vom Start weg ins Innere der Taucherglocke katapultiert. Eine atemberaubende Erfahrung: Schnabel legt ein menschliches Bewusstsein unters Mikroskop, lädt zur Tiefseeexpedition in die Psyche eines Jedermann – und zum Schmetterlingsflug, sachte, an die Grenzen der Existenz.

Eine Viertelstunde lang ist das Auge der Kamera das Auge des Kranken: mit gekippter Linse, Unschärfe neben Überschärfe, verzerrten Nahaufnahmen, dazu einem Ton, der wie aus dumpfer Tiefe Kontur gewinnt. Ein Arzt redet, ein Körperhuschen, und schon wird das gelähmte Augenlid zugenäht. Flimmern, das ins Dunkel absäuft, ins Bild gebannt von der subjektiven Kamera. Ist das auszuhalten? Ja, denn das Ich, das da entsetzt und schon wieder belustigt die Manipulationen an sich selbst erfährt und kommentiert, hält ja selber aus.

Die Rückkehr ins Menschsein

So subjektiv bleibt die Perspektive auch, wenn die Kamera – endlich! – die erste Totale des Krankenzimmers zeigt, die erste Spiegelung, dann das Gesicht selber. Zeitweise zieht sie sich auf den Zeugenstand des Zuschauers zurück, bei Familienbesuchsszenen etwa oder in Lebensrückblenden, aber ihre Position ist nur technisch eine von außen. Einmal Taucherglocke, immer Taucherglocke, es gibt kein Entrinnen. Auch für das Aufwühlende und Überwältigende bewahrt Bauby seinen feinen Blick: "Ich kann ziemlich diskret weinen", schreibt er. "Dann sagt man, mein Auge träne."

Es sind die Frauen, die dem stets von neuem implodierenden Geschehen Halt geben – so wie die Schauspielerinnen um den auch in den Rückblenden klug zurückgenommen agierenden Mathieu Amalric. Da sind Olatz López Garmendia als Jean-Dos grundsolide Physiotherapeutin, Anne Consigny als seine geduldige Lektorin, und Emmanuelle Seigner als Ex-Frau, die die Kinder mit dem Vatergespenst zusammenbringt und sogar die Eifersucht auf ihre Nachfolgerin bändigt. Und Marie-Josée Croze: Sie ist die zarte Logopädin, die Jean-Do mit jenem Alphabet vertraut macht, das ihm die Rückkehr ins Menschsein ermöglicht – und ihrer Schauspielkunst gehört die erschütterndste Szene des Films.

Ihr schleudert er, Buchstabe für Buchstabe, einen ungeheuren Satz entgegen, der ins philosophische Zentrum des Geschehens führt. Tatsächlich fragt sich: Wozu die unendliche Anstrengung des Wiederanknüpfens mit der Welt? Der Verleih deutet als "Liebeserklärung an das Leben", was Julian Schnabel eher als Hilfestellung verstanden wissen will, "mit dem eigenen Tod umzugehen". Es ist beides, und absolut.

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