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Kultur: Kanzeln der Sehnsucht

Es werde Licht: Die neue Kirchenbauten überragen das architektonische Mittelmaß der Städte

Schrumpfende Gemeinden und leerstehende Gotteshäuser, ja selbst der Abriss von Kirchen gehört in Deutschland zum Alltag. Ein Problem, das besonders evangelische Kirchen betrifft. Vor allem im Osten der Republik verfallen zahlreiche Gotteshäuser und es ist schon ein Erfolg, wenn sie überhaupt erhalten werden, um als Konferenzzentren oder Konzerthäuser, wie in Neubrandenburg, weltlichen Zwecken zu dienen.

Pararallel zu diesem Trend hat sich jedoch in den letzten Jahren eine neue Kultur des Kirchenbaus etabliert. Dabei bilden protestantische Kirchenneubauten eher die Ausnahme. Auch sie gibt es allerdings, wie der Fall der Versöhnungskapelle an der Bernauer Straße von Reitermann und Sassenroth zeigt. Dieser auf annähernd eiförmigem Grundriss errichtete Zentralbau mit seiner spannenden Kombination unterschiedlicher Baumaterialien gehört zu den interessantesten neuen Kirchbauten in Deutschland: Ein äußerer Umgang aus Holz-Lamellen umschließt den Kernbau der Kapelle aus Stampflehm, für den der Ziegelsplitt jener alten Kirche verwendet werden konnte, die 1985 gesprengt worden war, weil sie auf dem Mauerstreifen der DDR im Weg stand. So ist mit der Versöhnungskapelle eine höchst subtile Bezugnahme entstanden, eine materielle Transformation von Alt und Neu.

Weitaus zahlreicher als die evangelischen sind die neu entstandenen katholischen Kirchen. Einer der Gründe dafür sind noch immer die Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils aus den sechziger Jahren, das eine veränderte, der Gemeinde zugewandte Zelebrationsrichtung des Gottesdienstes mit sich brachte, und eine „tätige Teilnahme“ der Gemeinden einforderte. Die starre axiale Ausrichtung der Gemeindemitglieder auf den Altar wird seitdem zu Gunsten einer stärker zentralräumlichen Organisation des Kirchenraums zunehmend gelockert.

Diesen Wandel der liturgischen Anforderungen spiegelt die ellipsenartig geschwungene St. Christopherus Kirche in Westerland auf Sylt unmittelbar wider. Entworfen wurde sie von Dieter G. Baumewerd (Münster), der in Berlin Neukölln jüngst die apostolische Nuntiatur errichtet hat. Hohe Glasfugen ermöglichen an den Schmalseiten des weitgehend geschlossenen Baukörpers Einblicke in das ungewöhnliche Innere: Dort stehen Ambo (Lesepult), Taufbecken und Altar in einer Reihe hintereinander. Um sie herum gruppieren sich Bänke für die Gemeinde. Das architektonische Konzept dieser Ellipsenkirche spiegelt sich in der Struktur der Liturgie. Die Orte für Predigt und Feier der Eucharistie sind getrennt und bleiben doch in einem räumlichen Bezug zueinander. Die dadurch entstehende Bewegung können Gemeindemitgliedernicht nur mit den Augen verfolgen, sondern sie sind im Sinne der „tätigen Teilnahme“ aufgefordert, diese nachzuvollziehen.

Wie St. Christopherus in Westerland zeichnet fast alle Sakralbauten jüngeren Baudatums der Wunsch nach einer neuen Festlichkeit aus, nach einer neuen Sakralität, die an die Stelle der Gemeinschaftsästhetik der Gemeindezentren der siebziger und frühen achtziger Jahre getreten ist. Diese besondere Raum- und Materialästhetik findet sich auch bei der katholischen Kirche St. Thomas von Aquin sowie der Kapelle der Repräsentanz der Deutschen Bischofskonferenz in der Hannoverschen Straße in Berlin, beide von Thomas Höger und Sarah Hare. Geschickt agieren die Architekten mit der Wirkung des Lichts, um stimmungsvolle Sakralräume zu schaffen. So sind bei St. Thomas Glasplatten zwischen die Steine der Fassade eingefügt worden. Sie sorgen dafür, dass tagsüber ein diffuses Licht in den Andachtsraum fällt. Abends dagegen scheint die Kirche von innen heraus zu leuchten. Durchscheinende Alabasterplatten, die den Fensterflächen der Kapelle der Bischofskonferenz vorgehängt wurden, erzeugen eine nahezu transzendierende Stimmung in dem kleinen Raum.

Doch der Kirchenbauboom speist sich aus vielen Quellen: Etliche Kirchen, die in Westdeutschland während des Wiederaufbaus entstanden waren, müssen erneuert werden. Andere sind abgebrannt – wie St. Canisius in Berlin, deren Neubau jüngst geweiht wurde. Andernorts hat der Zuzug neuer Gemeindemitglieder aus Osteuropa größeren Bedarf geweckt. Daneben dokumentiert die aktuelle Kirchenbaurenaissance eine konfessionsübergreifende Sehnsucht nach Religiosität und Spiritualität in weiten Teilen der Gesellschaft. Besonders deutlich macht dies Peter Kulkas Haus der Stille für die Abtei Königsmünster in Meschede: ein Ort, der als Kloster auf Zeit entstand und mit 20 schlichten Gästezimmern Besuchern die Möglichkeit bietet, sich aus dem Alltag zurückzuziehen. So elementar die Anliegen des Hauses sind, so elementar ist seine Architektur: auf das Wesentliche konzentriert. Der Reduzierung der architektonischen Formen auf kubische Grundstrukturen entspricht die Kargheit des Baumaterials Sichtbeton.

Kernstück des Hauses ist die kleine Kapelle, ein karger Raum mit Betonwänden, der gerade dank der Entäußerung von allem Überflüssigen seine hohe Unmittelbarkeit erlangt. Doch bei aller formalen „Armut“ verfügt das Haus der Stille über ein großes Maß an Anmut und sinnlicher Wirkung. Der strenge Bau schließt damit fast nahtlos an jene Gedanken zu Armut und Leere an, die einst Romano Guardini, der Religionsphilosoph, und der große Kirchenarchitekt der Moderne, Rudolf Schwarz, formuliert haben.

Wie bei Kulka macht auch Heinz Tesars Wiener Kirche „Christus Hoffnung der Welt“ deutlich, dass es bei der aktuellen Kirchenbaurenaissance nicht um normierte Massenproduktion geht. Vielmehr zeichnen sich die neuen Sakralräume bei all ihrer Unterschiedlichkeit durch selbstbewusste Raum- und Materialqualität auf hohem Niveau aus. Verglichen mit Kulkas kargem Haus der Stille besitzt Tesars Kirche eine fast barock anmutende Üppigkeit. Die mit Chromstahlplatten verkleidete Fassade der Wiener Kirche wird von einem Geflecht kreisrunder Okkuli unterschiedlicher Größe überzogen, die ein abstraktes Fassadenmuster entstehen lassen. Diesem dunklen, gleichwohl schillernden Äußeren steht ein lichter, mit Holz vertäfelter Innenraum gegenüber. In weitem Halbrund gruppieren sich die Bänke um den steinernen Ambo und den Altar. Doch seine Qualität erhält der Raum durch die Lichtregie. Erst sie verleiht ihm seine unverwechselbare Stimmung. Eine Art „Lichtkanzel“ in einer der Ecken sorgt für einen gebündelten Einfall des Lichts. Und die Okkuli in den Wänden werden durch ein wellenförmiges Oberlicht ergänzt, das sich auch als eine magisch wirkende Öffnung zum Himmel lesen lässt.

Dank ihrer ästhetischen Vielfalt und Qualität besitzen die meisten neuen Sakralräume identitätsstiftendes Potenzial. Das gilt nicht nur für die Wirkung auf ihre jeweiligen Gemeinden, sondern greift weit darüber hinaus. So kommt ihnen inmitten des architektonischen Mittelmaßes, das die meisten Städte dominiert, die Bedeutung geistlicher und architektonischer Landmarken zu.

Jürgen Tietz

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