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Lederhosen in Friedrichshain. Das Bierfestival auf der Karl-Marx-Allee.

© dpa/Jörg Carstensen

Karl-Marx-Allee: Boulevard der Dämmerung

Unser Autor radelt in Neukölln los und landet plötzlich zwischen Lederhosen auf einem Bierfestival zwischen Arbeiterpalästen.

Wenn es aus dem Neuköllner Körnerkiez mit dem Rad nach Friedrichshain geht, sollte man besser eine Extraportion Nervenstärke in der Satteltasche haben. Dazu den Willen, selbst Unbegreifliches als empathische Herausforderung zu begreifen. Warum nur hupen diese hingeduckten Spoilernasen auf einmal an der Ampel? Bis einem dämmert, dass man sie mit Radesbreite um ihr abendlichen Autorennen gebracht hat, um ein kurzes Knurren in der Stadtdämmerung.

Dort, wo die Straßen am breitesten sind, stören Autos seltsamerweise am wenigsten. Ist endlich die Karl-Marx-Allee erreicht, atmet man auf und muss gleich wieder höllisch aufpassen: Der Boulevard saugt den Blick mit sich fort Richtung Fernsehturm, dabei geht die Fahrt doch stadtauswärts. Zerrissenheit vor den Arbeiterpalästen, deren Keramikschuppen auch nach Sanierungen nur temporär mit den Wänden verbunden bleiben. Fangnetze ziehen sich um die Erker, so als sprängen sie hier täglich aus den Fenstern ihrer einstigen Vorzeigewohnungen.

Berliner Bierfestival wäre nichts für Karl Marx

Einmal im Jahr verwandelt sich die sozialistische Prachtstraße in die größte Biermeile der Welt und 800 000 Besucher prosten ihr zu. Dabei war Karl Marx Weinliebhaber. Der Trierer Anwaltssohn besaß zeitweilig sogar eigene Weinberge, auch wenn die offizielle Geschichtsschreibung lieber herausstreicht, dass der junge Karl seine berühmte Artikelserie in der „Neuen Rheinischen Zeitung“ über die Not der Winzer an der Mosel schrieb. Darin tauchten sie erstmals auf, die ökonomischen Fragen, während Vater Marx 20 000 Flaschen in seinem Keller unweit der Porta Nigra hortete.

Dass der Kapitalismus nicht per se den Sieg davon trägt, davon wispern die grauen Geschäfte in Karls Allee. Aus einem Laden aber dringt Musik, während sich ein Schild, das eine Briefmarke zeigt, den Linden entgegenstreckt. Auf die Philatelisten folgte ein italienisches Kollektiv, das seine Cantina schlicht Briefmarken Weine nennt. Hier gibt es Flaschen, die der Italiener an der Ecke noch nie gesehen hat. Feines, Charaktervolles, auch Überraschendes wird hier sanft an Tischen ausgeschenkt, von denen man nicht mehr aufstehen will. Schon gar nicht, wenn darauf ein Teller hinreißender Orecchiette alla Norma dampft. Es liegt aber auch an der Musikauswahl, die mühelos von Monteverdi bis Gino Paoli reicht und wieder zurück. Ohne Angst vor großen Gefühlen gleitet man durch die Jahrhunderte. Wann man auftauchen will am letzten großen europäischen Boulevard, bleibt einen selbst überlassen. Marx aber hat immer recht: „Ich denke ein bisschen wie der alte Luther, dass ein Mann, der den Wein nicht liebt, niemals etwas Rechtes zustande bringt.“ Ein wärmendes Tuch für diese Nacht, weinrot.

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