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Kultur: Karneval der Raubtiere

Zyklus und Zerfall: zum Finale des Mahler-Marathons der Berliner Staatskapelle

Die Schiffssirene in der Neunten sagt es frei heraus: Hier kommt der Tod. Posaunen, Basstuba, schwarzes Register. Zerfall, Auflösung, Auslöschung. Von allem. Auch von Musik. Gerade von Musik. Ganz am Ende dann, drei Sätze später, Streicher allein. „Adagissimo“ notiert die Partitur, „mit inniger Empfindung“, „mit Dämpfer“ (die ersten Geigen „stets ohne“, grandiose Inszenierung!), alles im dreifachen Pianissimo, „ersterbend“. Als habe Gustav Mahler selbst es immer gewusst. Und als habe die Welt ihn ausgerechnet in jenem so verderbensselig auskomponierten Kassandraruf nie ernst genommen: Dass ein Œuvre wie das seine, das der Zeit der Mahler-Wellen, nämlich der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gesellschaftlich, politisch, ästhetisch so verhaftet war und dienlich, dereinst auch (wieder) Unzeiten zu bewältigen haben würde. Zeiten des Unverständnisses und Achselzuckens, des Nichts-Sagenden, der Abgestumpftheit, des wachsenden Widerwillens gar. Gustav Mahler ist tot. Man gönne ihm seinen Frieden?

Spätestens mit dem österlichen Mahler-Zyklus der Staatskapelle Berlin scheint eine solche Zeit der Ratlosigkeit nun angebrochen. Dabei versteht es sich von selbst, dass die geistigen Väter des jüngsten Festtage-Projekts, die Dirigenten-Dioskuren Daniel Barenboim und Pierre Boulez, alles andere im Sinn hatten, als neun Symphonien, vier Lieder-Zyklen und einen Gattungszwitter („Das Lied von der Erde“) zu Grabe zu tragen. Wie so oft aber ist die Kunst größer und reicher als das Leben, der Schöpfergeist klüger als seine Interpreten, und darin liegt ja auch viel Trost. Mahler zyklisch zu begreifen jedenfalls – schmerzhafte Lehre, Hörerfahrung Nummer eins –, ist geradezu Irrsinn. Denn an zehn Abenden hintereinander geschätzte 13 Stunden Märtyrermusik über sich ergehen, ja ausgießen zu lassen (der Verkauf von Gesamtpaketen, heißt es, lief zufriedenstellend), das grenzt an aufführungspraktischen Exorzismus. Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben: Wie Raubtiere in einem klaustrophobischen Gehege springen sich die einzelnen Symphonien hier gegenseitig an die Gurgel. Und beißen krachend zu.

Die Erklärung dafür findet sich beim Komponisten selbst. Eine Symphonie zu schreiben, das hieß für Mahler, oft zitiert, „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen“. Und genau das tut er zwischen 1884 und 1910, setzt Solitär gegen Solitär, Welt gegen Welt, die trugbildhaft-romantische des Wunderhorns gegen die martialisch-gewalttätige der Sechsten und Siebten, die idealistisch-verrätselte der Fünften gegen die Hybris der Achten und die Magie der Neunten. Auf dass jede einzelne sich selbst genüge, Ereignis sei und Offenbarung, niemals angelegt auf eine wie auch immer geartete Fortsetzung, schon um der Existenzialität des Entwurfs willen. Paradox, aber wahr: Indem Mahler stets das Ganze meint, ja in seinem Kunstanspruch und -denken gleichsam totalitär verfährt (auch darin zeigt sich der Kapellmeister und Theaterpraktiker!), verbietet sich jede weitere Totalität und Gänze, jede künstliche Konzentration. Und also die Zyklus-Idee an sich. Ein Überschuss an Werkerkenntnis jedenfalls, ein Mahlerscher Mehrwert ist nach diesen zwölf Tagen nicht zu verzeichnen.

Ganz im Gegenteil. Klein und zerbeult blinzeln einen die Stücke an, während durchs eigene Hirn die immergleichen Märsche und Ländler stampfen, das Walzerweh pocht, der Aberwitz klabautert. Laut heult der Aufwand, und in den Scherzi und Burlesken recken die Anführungsstriche und Ausrufezeichen ihre nimmermüden Zeigefingerchen. Mahlers neun Symphonien gewordener Traum vom zerbrochenen Paradies, er verfügt – Hörerfahrung Nummer zwei – über eine erschreckend dürftige, ja banale Rhetorik. Jedenfalls in der Summe, in dieser Häufung. So möchte man schon nach der zweiten, der „Auferstehungssymphonie“ rufen, jaha, wir haben verstanden, das Leben ist eine einzige Montage, und jeder Gassenhauer hat die Kraft zur Kunst – und entkommt eben jenen Reflexen doch bis zum bitteren Ende nicht. Das zermürbt. Böser Gedanke, siehe oben: Könnte es sein, dass sich diese Musik auf Dauer selbst ausradiert? Dass hinter dem legendären Kompositionsprinzip des „Durchbruchs“ (Adorno) kaum mehr steckt, als so lange mit dem Kopf gegen die Wand zu hauen, bis ein Loch drin ist, und zwar im Kopf, nicht in der Wand? Effekte, die Barenboim und Boulez wohl unterschätzt haben.

Nun gibt es naturgemäß Bezüge, die in Zyklus-Manier deutlicher hervortreten als im Repertoirevollzug. Dass der „Abschied“ aus dem „Lied von der Erde“ das Riesenfinale der dritten Symphonie gleichsam Lügen straft, oder dass die Vierte und die Neunte fatalistische Geschwisterstücke sein könnten, das dürfte man – Hörerfahrung Nummer drei – kaum je so hautnah erlebt haben, aller geschilderten Drangsal zum Trotz. Hörerfahrung Nummer vier wiederum unterfüttert diesen Gedanken aufs Prächtigste, und so ließ Daniel Barenboim es sich im Schlussjubel denn auch nicht nehmen, „seine“ Staatskapelle ausgiebig zu feiern. Was die Musiker in den vergangenen Festtagen geleistet haben, mental wie physisch und in unmerklich wechselnder Besetzung, dafür können sie nicht genug gepriesen und in alle Himmel gehoben werden. Im Kollektiv, in der immer üppigen Farbpalette eines Klangkörpers, der die Mahlersche Natur viel schöner malt und wirklicher, als wir sie in unserer zivilisatorisch verschlissenen Umwelt je haben kennenlernen dürfen; und ausnahmslos an allen Solo-Pulten. Dieses herrliche näselnde, gründelnde Englischhorn! Die Basstuba mit ihrem teerigen Glanz! Die Celli, weil sie als Gruppe oft wie auf einem einzigen Honigfaden wandeln! Diese wienerischsten unter den preußischen Geigen! Und Flöten, Klarinetten, Trompeten. Die fleißige Oboe. Die Hörner. Das Kontrafagott, direkt aus Mutter Erdes Eingeweiden. Die selbstbewussten Harfen. Ein Wunder, mit Sinnen zu greifen.

Was die Musiker betrifft, formt sich hier also ein Mahler-Gedächtnis, das ohne Zyklus-Zugeständnisse nicht zu haben wäre. Einerseits. Andererseits wissen die beiden Dirigenten mit diesem Pfund leider kaum zu wuchern. Hörerfahrung Nummer fünf: Daniel Barenboim und Pierre Boulez sind im Ergebnis so verschieden gar nicht, und natürlich ist es Quatsch, dem einen, Barenboim, pure Triebtäterschaft zu unterstellen, und dem anderen, Boulez, nichts als herzloses Analystentum. Auch der Franzose arbeitet mit Temporückungen und erweist sich in seinem strukturellen Ehrgeiz bei weitem nicht als so unbestechlich und präzise, wie man meinen könnte. Und auch Daniel Barenboim steht die Ekstase, dieses jähe, wilde, volle Glühen mit Hohlkreuz und geballter Faust, das er so liebt, selbstredend nur dank einer perfekt beherrschten Partitur zu Gebote. Der eine arbeitet gleichwohl mehr in der Horizontalen (Boulez), der andere mehr in der Vertikalen. Des einen Forte erklingt dramatisch gemischt (Barenboim), des anderen aus Überzeugung episch-ungefiltert – und ungleich lauter. Der eine schleppt sich bisweilen von Taktstrich zu Taktstrich, als triebe er Eisschollen vor sich her und wollte das musikalische Geschehen lediglich markieren. Der andere, ganz Ausdrucksfetischist, Entgrenzungsvirtuose, verliert sich gern in einer Art Pornografie der schönen Stellen, häkelt feinste Pianissimi, rührt in den Klangmassen wie in irdischem Manna. Barenboims Mahler ist über die Maßen gesund, viril, vital, Boulez’ Mahler immerhin so viel wie schmerzfrei.

Fragen oder Zweifel scheinen beide nicht zu plagen. So viel vorerst vom 21. Jahrhundert. Und von der Ausklammerung des Weltanschaulichen aus der Musik. Hoffentlich stirbt Gustav Mahler uns nicht ganz.

Christine Lemke-Matwey

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