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Kultur: Kinder, Wahnsinn

Richard Jones verdüstert Debussys „Pelléas et Mélisande“ bei den Münchner Opernfestspielen

Vor dem Kauf sollte der Kunde unbedingt das Kleingedruckte lesen. Diese eherne Grundregel beim Abschluss von Billigreisen und Mietverträgen gilt inzwischen auch für Opernkarten. Eine „Neuinszenierung“ verspricht die Vorderseite des Programmzettels zu „Pelléas et Mélisande“, der letzten Premiere der diesjährigen Münchner Opernfestspiele – doch auf der Rückseite findet sich die Einschränkung: „Die ursprüngliche Version dieser Inszenierung wurde an der Opera North in Zusammenarbeit mit der English National Opera gezeigt.“ Das bedeutet: gleiches Bühnenbild, gleiche Sänger und gleiche Regie, nur dass in München auf Französisch und nicht, wie an der English National Opera (ENO), auf Englisch gesungen wird. Vielleicht hat Regisseur Richard Jones auch noch ein paar Kleinigkeiten überpoliert.

Ein kleiner Etikettenschwindel ist das schon, und ein unnötiger dazu: Denn erstens sind in Zeiten knapper Gelder die Opernhäuser ohnehin kräftig am Koproduzieren, und zweitens ist der eigentliche Sinn von Festspielen ja nicht, Premieren aneinander zu reihen, sondern dem Publikum gegen erklecklichen Aufpreis Maßstäbliches zu bieten. Und gerade im Fall des „Pelléas“ hat es in den letzten Jahren eine ganze Reihe überzeugender Produktionen gegeben: Jossi Wieler in Hannover, Willy Decker in Hamburg oder Graham Vick in Glyndebourne haben Debussys einzige Oper zwischen symbolbeladener Märchenwelt und bürgerlichem Familiendrama erforscht, Marc Minkowski hat mit dem Leipziger Gewandhausorchester gezeigt, wie die Musik hier als hörbar gemachter Strom des Unterbewusstseins all das verrät, wovon in der zerfallenden Familie von König Arkel nicht gesprochen werden darf.

All diese „Pelléas“-Auseinandersetzungen wären durchaus festspieltauglich gewesen. Dass Münchens Intendant Peter Jonas ausgerechnet die Version der ENO ausgesucht und noch dazu nicht einmal für sängerischen Hochglanz gesorgt hat, ist da umso erstaunlicher.

Paul Daniel beispielsweise, der Musikchef der ENO, dirigiert seltsam spannungsarm, arbeitet zwar Einzelstimmen plastisch heraus, kann jedoch keine großen Bögen schlagen, geschweige denn durch subtile Klangmischungen die andeutenden melodischen Phrasen Debussys in die geheimnisvolle Atmosphäre des Unausgesprochenen tauchen. Die Musik wird zum Ornament, das lediglich die Oberfläche der Handlung klanggestisch illustriert, statt ihr eine zweite Bewusstseinsebene hinzuzufügen.

Das Staatsorchester klingt dabei in den zurückgenommeneren Momenten unsensibel, in den Augenblicken auffahrender Emphase oft unangenehm klebrig, als wäre Debussy schlechter Wagner. Was umso stärker auffällt, weil auch auf der Bühne kaum zu erahnen ist, was die Menschen in diesem Stück zueinander hinzieht oder voneinander abstößt.

Sicher, Richard Jones, dessen spektakuläre Bregenzer „Maskenball“- und „Bohème“-Inszenierungen Legende sind und der in Berlin im Mai an der Komischen Oper kunstfertig an Bergs „Wozzeck“ abglitt, weiß natürlich, dass alle in diesem Stück irgendwie einsam sind, im Dunkeln dahinvegetieren und sich nach dem Licht sehnen: In der meistenteils schwarzen Bühne Antony McDonalds existieren die Mitglieder der Familie Arkel in kargen, kalt ausgeleuchteten Einzelzellen, ziehen sich die Decken über die Köpfe wie Leichentücher.

Doch Jones zeigt lediglich diesen Zustand emotionaler Verarmung. Die Versuche aller Beteiligten, diesem Zustand zu entfliehen, münden dagegen in einen seltsam hölzernen Aktionismus. Golaud (Robert Hayward) etwa, der mitansehen muss, wie sich seine Frau Mélisande seinem jüngeren Bruder Pelléas zuwendet, wirkt in seinem leidenschaftlichen Wüten, als habe er sich aus einem Operndrama des 19. Jahrhunderts in diese stille Welt verirrt. Mélisande (Joan Rodgers) bleibt eine künstliche Puppe, Pelléas (Garry Magee) ein austauschbarer netter Typ von nebenan.

Dass in dieser Familie alle, selbst der greise Großvater Arkel (dick auftragend wie ein Russenzar: Clive Bayley), davon träumen, wieder Kinder zu sein, dass niemand die Pflichten seines Erwachsenendaseins erfüllen möchte (davon, dass die Welt draußen in Scherben geht, ist in Maeterlincks Text durchaus die Rede), dass es gerade die spielkameradenhafte Harmlosigkeit im Miteinander von Pelléas und Mélisande ist, die Golaud zur Verzweiflung bringt – in München erfährt man wenig davon. Auch nicht davon, dass die Kind sein wollenden Erwachsenen über ihren Sehnsüchten das einzige echte Kind, Golauds Sohn Yniold, vernachlässigen. Gerade mit ihm, vielleicht der Schlüsselrolle für das Verständnis des „Pelléas“, fängt Jones so gut wie gar nichts an.

Ein blasser Schlusspunkt einer Saison an der Münchner Oper, die von Nigel Lowerys disparatem „Orfeo“ über Gounods „Roméo“ (Regie: Homoki) bis zu Langhoffs „Meistersingern“ nur Flops gezeitigt hat. Mit kritischen Bemerkungen über Berlins Opern ist Peter Jonas inzwischen wohl vorsichtiger geworden.

Jörg Königsdorf

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