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Ashley Little: Niagara Motel.

© Rowohlt Polaris

Kinderroman: Nichts im Leben ist fair

Ein Kind zu sein, ist der härteste Job von allen: Ashley Littles Roadroman „Niagara Motel“.

Wer elf Jahre alt ist, hat hie und da schon erfahren, dass das Leben anstrengend sein kann. Und wer dann, so wie Tucker Malone, Held und Ich-Erzähler von Ashley Littles Roman „Niagara Motel“, in einem Waschsalon geboren wurde, eine Mutter hat, die Narkoleptikerin und Striptänzerin ist, mit dieser kreuz und quer durch die Lande zieht und dabei auf nicht weniger als sechzehn Schulen war, der muss sich arg zusammenreißen, um die Welt allein mit kindlichen Augen zu betrachten.

Er habe „den härtesten Job von allen“, antwortet jener Tucker einmal auf die Frage einer Krankenschwester, ob er denn schon arbeite. Auf die unweigerlich folgende Nachfrage, welcher das sei, erklärt er:  „Ich bin ein Kind.“ Einer der Vorzüge von „Niagara Motel“ ist, dass die kanadische Kinder- und Jugendbuchautorin Ashley Little mitunter zauberhafte Dialoge zu schreiben in der Lage ist. Denn ihr kindlicher Held bekommt nach seinem Treffer mit dem härtesten Job der Welt gleich noch einen Konter von seiner Gesprächspartnerin: „Ha, wenn du glaubst, dass das hart ist, dann solltest du mal versuchen, eine Frau zu sein.“

Ein andere Qualität dieses Romans: Bei aller Härte, die Tucker empfindet, all den Nöten, denen er in seinem jungen Leben schon ausgesetzt war, gesteht Little ihm doch ausreichend Naivität zu, einen wunderbaren kindlichen Optimismus. Er ist ein glaubhafter Erzähler, ein glaubhaft warmherziger zudem. Tucker Malone weiß nie mehr, als ein 11-Jähriger im Allgemeinen weiß. Er fragt viel, er wundert sich viel, selbst noch, als er Augenzeuge eines versehentlichen Mordes wird. Ja, „Niagara Motel“ ist ein brutaler Roman. Sein Personal entstammt dem White Trash der USA und Kanada, allerdings dem der frühen neunziger Jahre, (cave: Trump führt zu dieser Zeit Casinos, baut Wolkenkratzer oder legt Golfplätze an), zu dieser Zeit leiht diesem White Trash selbst ein Kurt Cobain seine Stimme.

Tucker kennt seinen Vater nicht, seine Mutter Gina ist nicht nur Striptänzerin, sondern bietet auch sonst gewisse Dienste an. Und die 16-jährige Meredith, die Tucker in Niagara Falls kennenlernt, wo er und Gina landen und sich zwangsweise länger aufhalten, diese Meredith prostituiert sich ebenfalls, wurde vergewaltigt und ist nun schwanger. Zu schweigen davon, dass ihre Eltern sich umgebracht haben, da war sie zwölf Jahre alt.

Die Welt ist, wie sie ist

Trotzdem sollte man diesen Roman Zehn- bis Zwölfjährigen nicht vorenthalten – die Welt ist, wie sie ist, und Ashleys Figuren sind liebenswert, menschenfreundlich, unzynisch. Auch übermäßiges Pädagogisieren ist ihre Sache nicht. Zumal „Niagara Motel“ im Verlauf Züge eines unterhaltsam-spannenden Roadromans bekommt. Eines Tages machen sich Meredith und Tucker auf eine Reise von Niagara Falls über die Grenze in die USA, erst nach Boston und dann einmal durch den Kontinent gen Los Angeles. Meredith, weil sie mal raus muss aus dem „Bright Light“, dem Jugendwohnheim, in dem Tucker sie kennenlernt, weil seine Mutter im Krankenhaus liegt, nachdem sie wegen eines narkoleptischen Anfalls von einem Lastwagenfahrer angefahren worden ist. Und Tucker will endlich seinen Vater finden. In seiner kindlichen Naivität glaubt er, dieser sei der Held seiner Lieblingsserie „Cheers“, der zufällig auch Malone heißt.

Sie stehlen einen schwarzen Chevrolet Caprice, der schlappmacht, danach geht es per Anhalter weiter. Meredith und Tucker, dieses seltsam erwachsen-kindliche Paar wird mitgenommen unter anderem von einem Waffennarr, einem Hippiepärchen, einer Drag-Queen und zwei professionellen Truck-Fahrern, von denen der eine schließlich bei den Riots in South Central nach dem Rodney-King-Freispruch ums Leben kommt. Little lässt tatsächlich wenig aus, auch nicht die Brutalität dieser Riots.

Tucker reift dabei in Lichtgeschwindigkeit. Er weiß nun, dass „nichts im Leben fair ist. Gar nichts. Man muss einfach durchkommen.“ Oder:  „Ich war elf Jahre alt. Ich wusste gar nichts. Aber ich wusste genug, um zu erkennen, dass das hier vermutlich das Ende der Welt war.“ Selbst so ein Weltende wie das in Los Angeles 1992 ändert jedoch nichts daran: Ein Elfjähriger hat das Leben noch vor sich.

Ashley Little: Niagara Motel. Roman. Aus dem Englischen von Katharina Naumann. Rowohlt Polaris, Reinbek 2017. 266 Seiten, 16,99 €. Ab zehn Jahren.

Weitere Rezensionen finden Sie auf unserer Themenseite.

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