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Campino

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Cannes: Das große Fressen

Das 61. Filmfest Cannes geht mit Wenders, Egoyan und Soderbergh in die Endrunde. Eine Bilanz

Thierry Frémaux war ehrlich, von Anfang an. „Langwierig“ und „kompliziert“ hatte der Festivalchef seine Filmauswahl schon bei der ersten Vorstellung des Programms genannt, und da fehlten ihm noch mehrere Titel. Nun, am Tag vor der großen Palmen-Parade, steht die Jury vor einer disparaten Masse überwiegend auf ehrgeizigem Niveau missglückter Werke. Und nicht wenige von ihnen sind, als wollten sie die Diktion des Festivalchefs bestätigen,langwierig und überkompliziert geraten.

Wenigstens gibt es entschieden individuelle Handschriften, auch wenn das, aufs Ganze des Films gesehen, Ratlosigkeit, mitunter sogar Beklemmung befördern kann. Der neue Wenders ist so ein Fall. In seiner Heimatstadt Düsseldorf anhebend und teilweise in deutscher Sprache gedreht (zum ersten Mal seit „In weiter Ferne, so nah“ vor 15 Jahren), lässt „Palermo Shooting“ sich als seit langem persönlichstes Dokument des 62-jährigen weltberühmtesten lebenden deutschen Filmregisseurs lesen. Auch findet, recht spät im Film, eine für Wim Wenders’ Verhältnisse unerhört leicht anhebende Liebesgeschichte Raum; nur kann sie sich, zwischen dem auch sprachlich sentimentalen Overdrive des Beginns und dem übersinnlichen Brimborium des Finales, nicht richtig entfalten.

Der Tote-Hosen-Sänger Campino spielt, wohl als Wenders’ sinnsuchendes Alter Ego, den erfolgreichen Fotografen Finn, den es von der Kunst immer mehr in die Welt der Mode verschlägt. Er ist über 40, von Schlafproblemen gebeutelt und stellt sich Fragen – und Off-Kommentar auch ausdrücklich dem Zuschauer –, die in ihrer Naivität geradezu niederschmetternd sind. Das klingt etwa so: „Geht’s Ihnen auch so, dass Sie sich nie anwesend fühlen?“, sinniert er, als sein Handy 23 Anrufe in Abwesenheit meldet. „Man merkt’s erst hinterher. Wenn es zu spät ist.“

Also steigt Finn aus, Richtung Palermo, freilich nicht ohne diesen Predigerton mit auf die Reise zu nehmen. In der sizilianischen Hafenstadt, die er bald wie ein Tourist mit der Kamera durchstreift, begegnet er der Restauratorin Flavia (Giovanna Mezzogiorno). Sie versucht ihn vor mysteriösen Attacken eines Bogenschützen abzuschirmen und nimmt ihn bei sich auf. Dieser Feind ist kein Geringerer als Gevatter Tod, der – das trifft sich - auch in einer ihrer Restaurierungs-Wandarbeiten als berittener Bogenschütze abgebildet ist.

Finn begegnet ihm schließlich persönlich: In einem staubigen Archiv tritt Dennis Hopper als fahlweiß ausgeleuchteter Kapuzenmann aus der Kulisse. Er sei es müde, den bad guy zu geben, klagt der Tod alias Hopper, um Finn alsbald in eine verblüffend kenntnisreiche Debatte über moderne Filmherstellungstechniken zu verwickeln. „Echte Dunkelheit“ und „echtes Licht“, so jedenfalls O-Ton Tod, seien jeglicher digitaler Bildproduktion vorzuziehen.

Nicht ironisch, wie diese Details vermuten ließen, sondern überwiegend bedeutungsvoll raunend ist „Palermo Shooting“ geraten – ein erratisches Alterswerk, in dem schwindende Ausdruckskraft mit wachsender Mitteilungswut einhergeht.

Doch auch am Anfang von Regiekarrieren geht es mitunter eigenartig zu, wie Charlie Kaufmans „Synekdoche New York“ zeigt, der einzige Erstling im Wettbewerb. Der ebenso erfindungsreiche wie verspielte Drehbuchautor für Spike Jonze und Michel Gondry entwirft, nach hoffnungsvollem Beginn, die mit seinen Sets verschmelzende Innenwelt eines von der Familie und schließlich allen guten Geistern verlassenen Theaterregisseurs (Philip Seymour Hoffman). Der bringt, über Jahre, in einer riesigen Lagerhalle das Stück seines eigenen Lebens nie und nimmer zur Aufführungsreife. Und dieses Desaster ist bald nur noch ebenso laut wie langweilig anzusehen.

Einem Regisseur wie Atom Egoyan dagegen wird man nie vorwerfen können, dass er sich gehen lässt oder billig austobt. Die Filme des Kanadiers armenischer Herkunft sind stets exakt gebaute Schaltpläne eines funkelnden Bewusstseins. Auch sein jüngstes Werk, „Adoration“, will auf allerlei Ebenen simultan gelesen sein - familienpsychologisch, politisch, existenziell. Der halbwüchsige Simon (Devon Bostick), der seit dem Unfalltod der Eltern bei einem Onkel (Scott Speedman) aufwächst, erfindet sich für ein Unterrichtsexperiment monströs neu: Der Vater, ein Araber, habe einst die schwangere Gattin mit einer Bombe ins Flugzeug nach Israel gesetzt, nur sei die Bombe nicht gezündet. Als Simon die Legende seines Überlebens ins Internet stellt und eine wachsende Chatgemeinde über das vermeintliche Faktum debattiert, wird der Lehrerin (Arsinée Khanjian) als Mitinitiatorin des Projekts gekündigt.

Was eine auch in ihren Bildern faszinierende Antwort des Kinos auf die mögliche Reinszenierung der eigenen Biografie im Second Life des Internet hätte werden können, weicht bald der zeitraubenden Zerquasselung eines Familienproblems. Die Lehrerin, so stellt sich heraus, ist die erste Frau des toten Vaters von Simon, dessen Großvater noch auf dem Sterbebett gegen den ungeliebten verstorbenen arabischen Schwiegersohn hetzte, weshalb wohl wiederum Simon das Verbrechen des eigenen Vaters erfindet: Das ist vielleicht nicht zu viel, um wahr zu sein, aber eindeutig zu viel für eine fokussierte Kinogeschichte.

Als einer der Höhepunkte des Festivals wurde Steven Soderberghs erst in letzter Minute fertiggestellter VierstundenDoppelfilm über den Revolutionsführer Che Guevara erwartet – auch das leider eine enttäuschte Hoffnung. Nicht zu beneiden ist jedenfalls der französische Verleih, der „Argentino“ und „Guerilla“ im Herbst als separate Titel ins Kino bringen will. Zu retten ist das Lieblingsprojekt von Hauptdarsteller Benicio del Toro, der den Film auch mitproduzierte, allenfalls durch eine gekürzte, aus beiden Teilen zusammengeschnittene Version – wenn denn „Che“ im klassischen Kino überhaupt eine Chance hat.

Das Cannes-Publikum sah beide Teile hintereinanderweg – ein weltexklusives Privileg. „Argentino“ zeichnet akribisch die Eroberung Kubas von 1956 bis 1959 aus den Händen des Diktators Batista nach, wobei der Film sich fast ausschließlich auf den jahrelangen Feldzug der Revolutionäre durch den kubanischen Busch beschränkt. „Guerilla“ erzählt von Guevaras Versuch, 1966/67 auch die bolivianischen Indios zur Revolution anzustiften, der mit der völligen Aufreibung seines Mini-Trupps endete.

In beiden Filmen fällt kein Schatten auf den moralisch tadellosen Revolutionär, zugleich ist abseits von ewigen Scharmützeln verblüffend wenig zu sehen. So viel Spannungsreiches, auch Ambivalentes – etwa aus den ersten kubanischen Regierungsjahren – hätte das Material hergegeben. Aber Soderbergh und del Toro beschränken sich, trotz vier satter Spielstunden, auf den filmisch und thematisch magersten Nenner.

Wie packend man eine Legende ins monumentale Bild setzen und zugleich fundamental dekonstruieren kann, zeigt der italienische Regisseur Paolo Sorrentino in „Il Divo“. Giulio Andreotti, jahrzehntelanger Immer-Wieder-Regierender der Democrazia Cristiana und Drahtzieher zahlloser politischer Morde, erscheint hier als zynischer, einsamer, gefürchteter Herrscher. Als Chef nicht eines Operetten-, aber eines Opernstaats, in dem Machiavelli schon vor Jahrhunderten die Prinzipien politischer Moral definierte.

Sorrentino findet hierfür immer wieder Arrangements von geradezu fellinesker Wucht und entwirft, pünktlich zu Beginn der dritten Ära Berlusconi, eine bestechend finstere Vision. Italien erscheint als geistig und politisch völlig ausgeblutetes Land, das nur noch von Wachsfigurenkabinetten regiert werden will, mit Finsterlingen an der Spitze.

Und auf einmal ist auch Cannes wieder ganz bei sich. Und wir, die wir heute über manche schwere Kost klagen, freuen uns vielleicht schon morgen, wir seien beim großen Fressen dabei gewesen. Und wer weiß, vielleicht sorgt die Jury unter Leitung von Sean Penn bei der Palmen-Gala am Sonntagabend wenigstens für ein Dessert surprise.

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