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CITY Lights: Die Sprache des Schweigens

Wie darf man den Holocaust behandeln und wie nicht? Frank Noack untersucht Formen der Schmerzerinnerung.

Raul Hilberg, der Verfasser des Standardwerks „Die Vernichtung der europäischen Juden“, ist trotz seines verspäteten Ruhms ein bescheidener Mann geblieben. Claude Lanzmann, der mit „Shoah“ (1985) ein filmisches Standardwerk zu dem Thema vorgelegt hat, unterstützte Hilberg so gut er konnte, aber an dessen Bescheidenheit wollte er sich nicht orientieren. Statt sich mit der Rolle des Dokumentaristen zu begnügen, entwickelte er sich zu einem unerbittlichen Kritiker von Holocaust-Filmen. Er stellte Regeln darüber auf, wie man den Genozid behandeln dürfe und wie nicht, und setzte sich damit der Kritik aus. Wie immer man zu seinem Anspruch auf Deutungshoheit stehen mag: Es ist wichtig, dass jemand überhaupt Fragen nach der Darstellbarkeit dieses Jahrhundertverbrechens formuliert.

Soeben ist seine Autobiografie in Frankreich erschienen, und das Babylon Mitte widmet ihm zu dem Anlass eine Filmreihe. Am Sonntag erscheint Lanzmann persönlich zur Vorführung seines Debütfilms Warum Israel? (1967), der im vergangenen Jahr Aufsehen erregt hat, als Hamburger Linksautonome gegen seine Vorführung protestierten. Der erste Teil von Shoah lief bereits gestern und wird am Montag wiederholt; der zweite Teil ist heute und am Dienstag zu sehen. Auch bei einer Länge von über 500 Minuten war nicht für alle Themen Platz, die Lanzmann behandeln wollte; daher widmete er dem Aufstand im Vernichtungslager Sobibor einen eigenen Film, den er 2001 in Cannes vorstellte: Sobibor, 14. octobre 1943, 16 heures (Freitag). Hier beschränkte er sich auf einen Interviewpartner, Yehuda Lerner, der aus insgesamt acht Lagern geflohen war und als 17-Jähriger den Aufstand ermöglicht hat. Wenn Lerner beiläufig erzählt, wie er einen SS-Mann mit einer Axt erschlagen hat, dann unterbricht ihn der Regisseur. Lanzmann möchte mehr Details hören, erwartet mehr Emotion. Aber Lerner verweigert sich. Ihm ging es nicht um Rache, sondern ums Überleben. Ganz am Ende, wenn im Abspann die Transporte nach Sobibor aufgelistet werden, liest Lanzmann diese Zahlen vor; nicht in seiner Muttersprache, sondern in einem schwer verständlichen Englisch. Das erzeugt einen Moment der Verstörung und hebt „Sobibor“ von den handwerklich glatten, Oscar-prämierten Holocaust-Dokumentationen der letzten Jahre ab.

Unendlich viel ist über „Shoah“ geschrieben worden; nur selten wurde erwähnt, dass Lanzmann einen der besten französischen Kameramänner engagiert hat: William Lubtchansky, der auf eine Zusammenarbeit mit Godard, Rivette, Truffaut und Straub zurückblicken konnte. Bei „Shoah“ geht es nicht nur um das, was Zeitzeugen zu erzählen haben. Zu den unvergesslichen Bildern gehören der Zugführer, der aus seinem Fenster schaut, und die Wiesen und Wälder, die am Ort der Vernichtung nachgewachsen sind. Lubtchansky gehört auch zu den Zeitzeugen, die Serge Bromberg für seine Dokumentation L’enfer befragt hat (Sonnabend im Arsenal). Henri-Georges Clouzot arbeitete im Sommer 1964 zweieinhalb Wochen an diesem Eifersuchtsdrama. Er war besessen von seiner Hauptdarstellerin Romy Schneider, ließ sie blaugrün anleuchten, bedeckte sie mit Olivenöl oder Zellophan, und sie wiederum flirtete hemmungslos mit der Kamera. Sie stand damals bei Columbia unter Vertrag; deren Bosse waren dermaßen begeistert von den ersten Mustern, dass sie Clouzot ein unbegrenztes Budget zur Verfügung stellten. Das brachte ihn erst recht um den Verstand. Er fand kein Ende, vergaß sein Konzept, und nachdem er eine lesbische Liebesszene zwischen Schneider und Dany Carrel abgedreht hatte, erlitt er einen Herzinfarkt. Der Film blieb unvollendet, aber Bromberg entdeckte 15 Stunden belichtetes Material ohne Ton, mit hinreißenden psychedelischen Bildern.

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