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CITY Lights: Wir sind neugierig

Frank Noack fahndet nach der Wahrhaftigkeit im Dokumentarfilm

Allerorten Pseudo-Dokus, Dokudramen und halbdokumentarische Spielfilme! Errol Morris’ „Standard Operating Procedure“ steht für den Trend, authentisches Material so stark mit Musik und Computeranimationen zu versehen, dass alles fiktiv wirkt – zu schweigen von dem Verfahren, die Wärter von Abu Ghraib wie Hollywoodstars auszuleuchten. Angenehm schlicht dagegen ein Dokumentarfilm wie „Prinzessinnenbad“, doch selbst hier wurde bei der Auswahl des Materials so stark auf emotionale Wirkung gesetzt, dass die porträtierten Schülerinnen sich einseitig dargestellt fühlten.

Der reine Dokumentarfilm verzichtet auf derlei Dramatisierungen, er geht auch nicht mit groben Thesen auf Zuschauerfang. Wie wäre es mit dem Blick auf den Alltag in einem Dorf nahe der Oder? Als Winfried Junge 1961 mit seiner Chronik der Kinder von Golzow anfing, wollte er nur den Übergang einiger Jungen und Mädchen vom Kindergarten zur Einschulung festhalten. Er konnte nicht ahnen, dass sich aus dem Kurzfilm „Wenn ich erst zur Schule geh ...“ eine Langzeitstudie entwickeln würde, die bereits 1985 im Guinness-Buch der Rekorde landete. Doch nach 70 Kilometern Film beziehungsweise 45 Stunden soll nun Schluss sein: Zu dem Anlass veranstaltet das Babylon Mitte an drei Wochenenden das Marathon Golzow Unlimited, zu dessen Eröffnung am Freitag, 19 Uhr, der Regisseur und seine Frau Barbara anwesend sein werden.

Bewusst als Pseudo-Doku gedacht war Vilgot Sjömans Ich bin neugierig (Freitag im Arsenal), Die Politaktivistin Lena, Tochter eines Spanienkämpfers, befragt Stockholmer Passanten nach politischen und sexuellen Themen. Später hat sie auch selbst Sex – keineswegs unter der Bettdecke, weswegen der US-Zoll das Material beschlagnahmte. Wenn es denn einen definitiven Achtundsechziger-Film gibt, sollte Sjömans Skandalerfolg in die engere Auswahl kommen, denn er würdigt Theoretiker und Hedonisten, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Auf die Frage, ob es im schwedischen Wohlfahrtsstaat Klassenunterschiede gibt, antwortet Sjöman frech: Nicht, wenn die Menschen nackt sind. Für die seriösen Absichten des Regisseurs spricht, dass er Lenas politischem Engagement und ihrem Protest gegen den Vietnamkrieg ausführlich Raum gibt, bevor er sie ins Schlafzimmer begleitet. Außerdem war Lena Nyman eine klassisch ausgebildete Schauspielerin, die später zu Ingmar Bergmans Ensemble stieß.

Mit seriösen Absichten hatte Giuseppe De Santis 1949 das neorealistische Drama Bitterer Reis vorbereitet. Der Filmkritiker und Drehbuchautor wollte die schlechten Arbeitsbedingungen denunzieren, die für Reispflückerinnen in der Po-Ebene bestehen (Freitag und Montag im Arsenal). Der Begriff „Po-Ebene“ mag nur für unser Ohr anzüglich klingen; die Besetzung der weiblichen Rollen sorgte auch weltweit dafür, dass die Zuschauer – im Sinne des Produzenten Dino De Laurentiis – lieber die wohlgeformten Körper der Arbeiterinnen bestaunten, als ihren harten Alltag zu beklagen. Das Kalkül ging auf, zum Leidwesen junger Aktricen. Der Reispflückerinnenfilm wurde ein eigenes Subgenre und war mit allerlei Strapazen verbunden. Silvana Mangano, die noch vor der Premiere De Laurentiis’ Ehefrau wurde, ist übrigens nicht etwa auf einem Reisfeld entdeckt worden, sondern bei der Wahl zur Miss Italia.

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