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Liebe geht durch den Magen. Hobbykoch Tom (Jim Broadbent) und seine Frau Gerri (Ruth Sheen).

© prokino

Feelgood-Movie: Das Glück der späten Jahre

Ein Paar und seine Freunde: In Mike Leighs hinreißendem Feelbetter-Movie "Another Year" wachsen einem die Figuren auf eine Weise ans Herz, die weit über das Ereignis der Filmbegegnung fortwirkt.

Feelgood-Movies, wie sie das Kino neuerdings mit schöner Regelmäßigkeit für die kräftig wachsende Klientel seiner älteren Besucher hervorbringt, sind Wellness für die Seele. Der so genannte Best Ager, der schon manche Lebensstürme hinter sich hat, kauft sich ein Ticket ins Stellvertreterglück: Er macht sich ein paar schöne Stunden mit überwiegend robust-freundlichem Leinwandpersonal, das seine Rührungs- und Heiterkeitsmuskeln in gleichem Maße massiert – und derart emotionsgekräftigt verlässt er das Lichtspieltheater.

Nachteil dieser Filme: Der Wohlfühleffekt hält, ähnlich wie jener aus der Welt der Bade- und Knetpaläste, nicht sonderlich lange vor. Die schmunzelträchtige Erinnerung an die kuriosen und mitunter eigensüchtigen, aber nicht wirklich bösen älteren Schriftsteller etwa aus der frischen Landluft-Komödie „Immer Drama um Tamara“ verflüchtigt sich rapide, und es scheint, als sei das von Vielfilmer Stephen Frears auch gar nicht anders gemeint. Oder, auch neu im Kino, Jean Beckers „Das Labyrinth der Wörter“: Gar zu nett anzuschauen das Zusammenspiel des gutherzigen Gérard Depardieu mit der herzensguten Seniorenheimbewohnerin Gisèle Casadesus, aber als die beiden nach 82 schlanken Filmminuten in einem uralten Lieferwagen davonschunkeln, mag man sie nur zu gern ihrem gewiss erfreulichen Schicksal überlassen.

Auf den ersten Blick passt Mike Leighs „Another Year“, der das Leben eines Ehepaars knapp jenseits der sechzig äußerst gemächlich im Jahreslauf besichtigt, perfekt in diese Reihe: Der Film zeigt zart zerknitterte, lebensschöne Leute, die unter Vermeidung störend lauter Dramen überwiegend schöne Dinge tun. Tom (Jim Broadbent) und Gerri (Ruth Sheen) - ja, ihre Namen tönen tatsächlich wie die Zeichentrickfiguren, und die beiden lächeln unermüdlich, wenn man sie drauf anspricht – führen ein rundweg ausgeglichenes Leben. Freundlich und umsichtig gehen sie ihrer Arbeit als Geologe im Londoner Tunnelbauwesen und als Therapeutin im Gesundheitsamt nach, öffnen abends mit Gästen in ihrem Reihenhaus gern ein Fläschchen Wein, und ihre Freizeit verbringen sie am liebsten im Schrebergarten. Dort gedeiht auf das Prächtigste das Grünzeug, das Hobbykoch Tom alsbald in der grundgemütlich eingerichteten Küche zurechtschnipselt.

Mit anderen Worten: fast zu schön dieses Eheleben, um wahr zu sein. Und wenn es doch wahr ist oder zumindest wahrhaftig? Dann wirkt das erst recht unerträglich. Gerade in ihrer Gelassenheit und unerschütterlichen Zuversicht sind Tom und Gerri eine Provokation – zwei, die es vielleicht nicht auf der Karriereleiter, aber emotional ganz nach oben geschafft haben, zwei, die sich nicht blind, sondern sehend und fühlend und handelnd verstehen. Vor allem: zwei, die sich anders als hunderttausend andere Paare nicht getrennt haben und dabei auch noch unverschämt glücklich sind. Und als wollte Mike Leigh diese reale Utopie bis ins Letzte hinterlistig auspinseln, grünt auch Tom und Gerris ReihenhausVorgärtlein selbstverständlich grüner als die anderen.

Die Darstellung solch puren Glücks allein wäre allerdings noch kein Filmstoff. Also finden sich drum herum, zunächst als bloßer dramaturgischer Kontrast, ein paar etwas weniger besonnte Schicksale. Tom und Gerris 30-jähriger Sohn Joe (Oliver Maltman) zum Beispiel, der als Pflichtverteidiger zwar einen auskömmlichen Job hat, aber noch immer keine Frau fürs Leben und Kinderkriegen. Oder Toms Jugendfreund Ken (Peter Wight), der sich vor lauter Einsamkeit eine beträchtliche Wampe angefressen hat: Wenn er wochenendbesuchsweise zum Golfen kommt, stammelt er sich abends beim Wein den Weltschmerz von der Seele. Oder Toms älterer, frisch verwitweter Bruder Ronnie (David Bradley), der dem Hass des eigenen Sohnes nur Stummheit entgegenzusetzen hat. Und erst Gerris Arbeitskollegin Mary (Lesley Manville): Als ermattete Sammlerin desaströser Männergeschichten selber schon um die fünfzig, umgarnt sie mal Joe und lässt mal Ken böse abblitzen und guckt ansonsten tief ins Glas.

Wacklige, eher suchtanfällige Leute sind das, die die stets souveränen Genussmenschen Tom und Gerri umgeben, zuspruchsbedürftige Schmarotzer anderweitigen Glücks. Vor allem Mary klammert sich an das Beschützerpaar, drängt sich wie eine verlorene kleine Schwester immer hemmungsloser in das familiäre Ensemble hinein. Grandios zeigt der Film, wie die tapfere und doch subtil Mitleid heischende Hausfreundin langsam zur Bedrohung wird, vor allem, als Joe eines schönen Tages mit Katie (Karina Fernandez) eine extrem patente und vorzüglich ins Familienbild passende Partnerin präsentiert. Hier – endlich – könnte das große Drama beginnen.

Mike Leigh aber interessiert etwas anderes, und er zeigt es auf so sanfte wie nachhaltige Weise. Was, wenn nicht die zerstörerische Kraft der psychisch Schwachen triumphiert wie so oft im Kino, sondern wenn sich an ihr die Güte von Menschen erst beweist? Wie hält man ein Leben offen, das angesichts wachsender Störungen geschlossen vielleicht sicherer wäre? Und kann aus doppelter Hoffnungslosigkeit vielleicht sogar Hoffnung entstehen, sofern man die Herzenswärme anderer nicht überstrapaziert?

Derlei Fragen, noch dazu im Mikrokosmos einer intakten Familie mit ihren behutsamen Suchbewegungen erörtert, mögen anderswo in eine Art pastorales Kino münden. „Another Year“ aber, chronologisch gedreht und in die Jahreszeiten vom lichten Frühling bis in einen Winter entsättigter Farben gegliedert, entwickelt aus fortwährenden Mini-Implosionen ein immer spannenderes Abenteuer. Und zwischen einer Anfangsszene, in der zwei Nebenfiguren auf atemberaubende Weise den Grundton von Wärme und Schmerz setzen, und einem Finale, das in der Großaufnahme eines Gesichts alle schlimmschönen Zukunftsgewitter irrlichtern lässt, entfaltet sich in aller Bescheidenheit ein Feelbetter-Movie, wie man es noch nie gesehen hat.

Tatsächlich wachsen einem die Figuren auf eine Weise ans Herz, die weit über das Ereignis der Filmbegegnung fortwirkt. Das liegt an der ungeheuren Vertrautheit des Teams vor und hinter der Kamera, mit dem Mike Leigh seine Filme konzipiert. Vor allem aber an dem Prinzip der Wirklichkeitssimulation, aus dem Regisseur und Schauspieler über Monate improvisierend die Figuren und die Geschichte entwickeln, bevor der eigentliche, eher knappe Dreh beginnt. Eine unerhörte Summe transzendierter Individual- und Gemeinschaftserfahrung kommt da zusammen, zu lesen in jeder beiläufigen Gesichtsregung und Geste. Schon immer ging es Mike Leigh und seinen Leuten – vom düsteren „Naked“ von vor bald 20 Jahren bis zuletzt beim scheinbar federleichten „Happy-Go-Lucky“ – um nichts Geringeres als die kunstvoll verdichtete Wiedererfindung des Lebens. In „Another Year“ ist es ihnen ganz besonders eindrucksvoll gelungen.

Ab Donnerstag in den Kinos Capitol, Cinema Paris, Cinemaxx, FT Friedrichshain, Kulturbrauerei und Yorck; OmU in den Hackeschen Höfen und im Odeon

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