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Jan Schulz-Ojala, Filmkritiker des Tagesspiegels, berichtet in seinem Festival-Tagebuch aus Cannes.

© Mike Wolff

Filmfestival Cannes: Die Nackten und der Tote

jan@cannes, das Festivaltagebuch: Das 63. Festival von Cannes eröffnet mit dem üblich schicken Defilee. Die ersten Wettbewerbsfilme setzen hingegen eher aufs Grelle und aufs Stille.

Schlips geht eigentlich gar nicht. Während die Damen auf den rotsamtenen Stufen zum Festivalpalast weitgehend frei in Stoff-, Schnitt- und Farbwahl sind, sofern sie ein Optimum an Eleganz beherzigen, schreibt das Cannes-Protokoll den Herren schwarzen Smoking mit Fliege vor, vom akkreditierten Knipser bis zum Kulturminister. Ganz seltene Ausnahmen bestätigen die eiserne Regel. Ein Jean-Jacques Annaud etwa darf schon mal lila Fliege tragen. Oder Großsponsoren: Die erscheinen, Hauptsache edel, schon mal ganz in Frühlingsbeige. Aber schlichte Krawatte statt „papillon“, wie die Franzosen so schmetterlingsschillernd die teutonische Feinstubenfliege nennen? Um damit ungerüffelt in den Saal zu kommen, sollte man schon mindestens Präsident der Jury sein und Tim Burton heißen.

Der nahm am Mittwochabend die Stufen so locker wie Russell Crowe: Sonnenbrille auf der Nase, ein paar maulfaule Statements für den dienstlichen Wegelagerer vom Festival-TV, und ab durch die Mitte. Die Schönen jeden Alters, von Salma Hayek bis Arielle Dombasle, quälten sich derweil in wahren Hochzeitskleid-Ungetümen mit furchterregenden Schleppen die Stufen hinauf – nur nicht stolpern auf den letzten Metern in den Kino-Olymp! Aber was gäbe es Schöneres, als vor Hunderten von Kameras und Tausenden von Schaulustigenaugen zu paradieren, nicht zu vergessen die Millionen von live zugeschalteten Fernsehzuschauern, von Grönland bis Gibraltar?

Gut angezogen zu sein ist nicht so sehr das Problem der Heldinnen des Roadmovies „Tournee“, mit dem Mathieu Amalric den Reigen der 19 Palmenaspiranten eröffnet. Auch ausgezogen gut auszusehen und dabei so lustig wie sexy: Das ist der Job der fünf überwiegend voluminösen New Burlesque-Stripperinnen, die Impresario Joachim, gespielt von Amalric selbst, aus den USA in seine französische Heimat mitgebracht hat. Mit famosen Fummeln und Federboas betreten sie die Mehrzweckbühnen der matrosengewohnten Küstenstädte von Le Havre bis Nantes, ziehen unter ohrenbetäubendem Gejohle ihre Nummern ab sowie die Klamotten aus, und bevor die Scheinwerfer zur ultimativen Entflammung schmutzigster Fantasien verlöschen, tanzen die goldfransenbewehrten Nippel den Hexentanz. Tja, so gut läuft das Geschäft an den Landesrändern, da sollte die Eroberung von Paris ein Leichtes sein.

Auch Wang Xiaoshuais „Chongqing Blues“ ist eine Überraschung

Schön drall das alles, schön pittoresk. Wenn da die leise Seite der Geschichte nicht wäre, die Geschichte Joachims selbst, der jedermann, ob in Kneipen oder Hotelfoyers, mit dem hochnervös vorgebrachten Wunsch nervt, die Hintergrundmusik bittschön sofort auszumachen. Es ist eine Geschichte, die sich mitten aus den lärmend-lustigen Proben und dem dröhnenden Dauergekicher der Darbietungsexpertinnen sachte in den Vordergrund spielt. Niemand will dem hochverschuldeten Joachim in Paris einen Saal vermieten, und zu allem Überfluss lebt da auch noch eine Restfamilie mit prä- und mittelpubertierenden Söhnen herum. Joachim ist fertig mit der Welt und mit sich, ein Schnorrer und Schaumschläger, Dauerkomplimente an seine unterbezahlten Tänzerinnen selbstredend inklusive.

Und das macht diesen Showbiz-Film, der behutsam die Grenzen eines durchaus grell ausleuchteten Genres ertastet, immer wieder für Augenblicke groß. Wie Joachim auf der Ausreißerfahrt nach Paris mit einer Tankstellenkassiererin flirtet: Überhaupt nichts passiert, und doch ist alles - fast - gesagt. Oder wie er mit seinen fremdgewordenen Söhnen, die er hilflos liebt, sowas von gar nicht zurechtkommt. Oder wie sich sein Abgrund von Einsamkeit unvermutet in einer Art Liebeserkennen schließt, um dann, bevor Joachim endlich mal das Maul aufreißt, gleich selber wieder aufzureißen. Oder hätten wir hier ein Happyend übersehen?

Die Nackten und der Tote, so könnte die Geschichte fast heißen, und sie verleiht diesem Wettbewerb der überwiegend unglamourösen Namen erste prägnante Kontur. Auch Wang Xiaoshuais „Chongqing Blues“ ist so eine Überraschung, zumindest in seiner ersten Hälfte. Ein Kapitän zur See, er trägt den ganzen blassfarbenen Film über dieselben blaugraubraungrün abgewetzten Klamotten, sucht in der zentralchinesischen Stadt Chongqing den Tod seines Sohnes aus erster Ehe aufzuklären. Das Kind Lin Bo war zehn, als der Vater Lin (Wang Xueqi) aus seinem Leben verschwand; und mit 25 nimmt Lin Bo eine Geisel in einem Kaufhaus und wird erschossen.

Eine Trauerarbeit also. Eine Recherchearbeit. Nur wer alles weiß, kann wenigstens einen Teil davon hinter sich bringen. Also erkundigt Lin sich bei einem alten Freund, bei der Polizei, bei seiner früheren Frau, beim einzigen Freund seines Sohnes, bei der Geisel, schließlich bei dem Mädchen, das den Sohn verließ: eine Herausbrechungsarbeit von Wahrheitsstückchen, und die Wahrheit schreibt sich geradezu schmerzhaft behutsam in Lins unendlich geduldiges Gesicht ein. Auf der Suche nach einem Bild seines Sohns bleibt ihm nichts, als eine Einstellung aus dem Kaufhaus-Überwachungsfilm vergrößern zu lassen – und er treibt es dabei so weit, dass das Foto sich ganz in riesigen Pixeln auflöst. Was für eine Lebensmetapher mitten aus einer Todesgeschichte heraus: Wird nicht auch, wenn ein Kind heranwächst, sein Bild den Eltern Eltern immer unschärfer? Wer aber weit genug wegtritt, erkennt in ihm sein eigenes Spiegelbild.

Dem Zuschauer werden jene eigentlich netten Italiener immer unheimlicher

Schade nur, dass der neue Film jenes Regisseurs, der auch, durchaus gefühlsbetont, „Beijing Bicycle“ und „Shanghai Dreams“ gedreht hat, immer mehr auf – zudem musikuntermalte – Überdeutlichkeit setzt. Das Motiv der Vaterlosen, die selbst als Vaterhasser Vatersehnsüchtige bleiben, wird ebenso überreizt wie der Aufklärungsfuror Lins, der irgendwann nichts mehr erfährt, was der Zuschauer nicht längst wüsste. Und schon vergeudet sich, was so hintergründig und vorsichtig begann, an die Wiederholung, die dramaturgische Ausbeutung, den Effekt.

Um Effekte ist Sabina Guzzanti in ihrem Anti-Berlusconi-Agitpropstückchen „Draquila – Italien zittert“ nicht verlegen. Die erfolgsförderlichste Wirkung hat ihr Italiens Kulturminister soeben gratis hinzugezaubert, indem er mit Hinweis auf ihren Film seinen Besuch in Cannes absagte. Prompt war der sonst eher abgelegene Bunuel-Saal im Festivalpalast proppenvoll. Guzzanti zeichnet die erbarmungslose mediale Ausschlachtung der Erdbebenkatastrophe von L'Aquila nach, sie analysiert den Ausbau des staatlichen Zivilschutzes zum Millionen-Selbstbedienungsladen für Berlusconi-Vertraute, sie attackiert die Mafia und stellt den Zynismus einer von Berlusconi gesteuerten Desinformationspolitik bloß, die Nutzen auch noch aus massenhaftem Tod zieht.

Angesichts der leidenschaftlich ausgebreiteten Fakten werden dem Zuschauer jene eigentlich netten Italiener immer unheimlicher, die da vor der Kamera immer noch unverdrossen auf ihren neuen Duce setzen. Den Vorwurf eines gewissen Gehirnwaschzwangs muss sich allerdings auch die Regisseurin selbst gefallen lassen, die in ihren Fragen - sogar an Stichwortgeber ihres eigenen Protests - oft die Antwort gleich entrüstet mitformuliert. Selbst ein Michael Moore, durchaus ein Freund des groben Klotzens, agiert im Detail subtiler. Aber vielleicht muss so schreien, wer im heutigen Italien abseits der nahezu gleichgeschalteten Medien noch gehört werden will.

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