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Filmkritik: In ihren Augen

Argentinisches Melodram: „In ihren Augen“

Mit diesem Film hatte bei der Oscarverleihung kaum einer gerechnet. „Das weiße Band“, „Ein Prophet“ und „Ajami“ galten als Favoriten für den Auslandsoscar. Aber die Wahl fiel auf den argentinischen Beitrag „In ihren Augen“: eine typisch konservative Entscheidung der Academy, wie viele vorschnell urteilten. Denn anders als seine künstlerisch wie narrativ eigensinnigen Konkurrenten setzt Regisseur Juan José Campanella auf klassisches Erzählkino. Der Tod und die Liebe sind hier die treibenden Kräfte.

Zu Beginn drei Erinnerungsfetzen: ein in verschwommenen Bildern illustrierter Abschied am Bahnhof, ein verliebtes Frühstück zu zweit und die kurzen, schockierenden Bilder einer Vergewaltigung. Drei Möglichkeiten, die Geschichte zu beginnen, aber alle drei landen im Papierkorb. Der pensionierte Ermittler Benjamin Espósito (Ricardo Darín) will ein Buch über jenen Fall schreiben, der ihn sein Leben lang nicht losließ. Eine junge Frau wird 1974 vergewaltigt und erschlagen, die Bilder des Opfers schleudern den jungen Gerichtsbeamten aus der beruflichen Routine. Gegen die Ignoranz seiner korrupten Vorgesetzten verfolgt er den Fall zusammen mit der jungen Richterin Irene Hastings (Soledad Villamil), bis sie den Täter ins Gefängnis gebracht haben. Aber schon bald kommt er wieder frei, weil er in der Haft kollaboriert und politische Gefangene ausspioniert hat. Die Militärjunta bahnt sich gerade den Weg zur Macht und im „Neuen Argentinien“ macht der verurteilte Mörder im Sicherheitsapparat Karriere.

Als ein Mordkommando seinen Kollegen erschießt, flüchtet Benjamin auf einen Posten in die Provinz und kehrt erst 25 Jahre später nach Buenos Aires zurück. In die Retrospektive des Falls mischt sich die zart melodramatische Geschichte einer unausgesprochenen Liebe zwischen Benjamin und Irene. Regisseur Campanella, der den Roman von Eduardo Sacheri adaptiert, gelingt es, die beiden Erzählebenen so eng miteinander zu verschlingen, dass die kriminalistische Ermittlung und die Ermittlung der eigenen Gefühle oft kaum auseinanderzuhalten sind. Das ist spannend, herzzerreißend und durchzogen von tiefer Melancholie. Gleichzeitig verweist „In ihren Augen“ – auch wenn ein unpolitisches Verbrechen verhandelt und die Zeit der Militärdiktatur fast vollkommen ausgeklammert wird – mit stiller Intensität auf die unverheilten Wunden der argentinischen Geschichte, stellt elementare Fragen nach Schuld, Strafe, Gerechtigkeit und zeigt, wie die traumatische Vergangenheit Täter und Opfer immer noch gefangen hält.

Cinemaxx Potsdamer Platz, Filmkunst 66, Kino in der Kulturbrauerei, Passage, OmU: Hackesche Höfe, Rollberg

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