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drachenläufer

© Paramount

Filmkritik: Nicht ohne meinen Neffen

Die Verfilmung des „Drachenläufers“ wird zum Politikum. Denn die Hauptdarsteller, Kinder im Alter von 11 und 14 Jahren, wurden im Dezember in die Arabischen Emirate ausgeflogen. Ein Film, den die Realität einholt.

Die Kunst hat hier ein erhebliches Problem mit der Realität. Denn das Sujet sprengt den Rahmen. Ein Film verändert das Leben von Laien, die man vor die Kamera geholt hat. Die von einer Karriere träumten oder auch: die eine Geschichte aus ihrem zerstörten Land erzählen wollen, damit die Welt nicht wegschaut. Und nun müssen sie selbst fliehen. Es ist eine afghanische Geschichte, und der Grat, der zwischen bester Absicht und unverantwortlicher Einmischung liegt, scheint ungeheuer schmal. Auf diesem Grat balancieren nicht nur Künstler, sondern im Grunde all die zivilen Helfer und erst recht die Soldaten, die in einem Land wie Afghanistan eine – notwendige – humane Mission erfüllen.

Und das geschah, bevor es im Kino dunkel wird und ein Spielfilm beginnt, den die Realität einholt. Vier afghanische Kinder, zwischen 11 und 14 Jahren alt, wurden im Dezember aus Kabul in die Arabischen Emirate ausgeflogen, der genaue Aufenthaltsort wird geheim gehalten. Es sind jene Jungs, die in Marc Forsters Film „Drachenläufer“ die Hauptrollen spielen. Die Paramount fürchtete um ihre Sicherheit.

Dass sich die Lage zuspitzt, zeigt der Anschlag vom Montag auf das „Serena“ in Kabul. Das Fünf-Sterne-Hotel galt bisher als einzig sicherer Ort für ausländische Besucher der afghanischen Hauptstadt. Gleichzeitig steht es, trotz oder wegen der Befestigung und Bewachung, wie ein Präsentierteller da, von dem sich Terroristen nur zu bedienen brauchen. Das ist die schreckliche Ambivalenz afghanischer Verhältnisse.

Es geht in dem Konflikt vorderhand um diese Schlüsselszene: Eine paschtunische Schülergang vergewaltigt einen Jungen aus der Bevölkerungsgruppe der Hazara. Regisseur Forster („Monster’s Ball“) zeigt nun nicht das eigentliche Verbrechen, die Kamera dreht ab. Ob dies der Rücksicht auf die afghanischen Darsteller und die Ehrbegriffe des Landes geschuldet ist oder ob da Überlegungen hinsichtlich der Vermarktungsmöglichkeiten des Films eine Rolle spielten, lässt sich nicht beantworten. Aber die Filmleute hätten wissen müssen, was für ein Minenfeld man hier betritt, bei all der Sorgfalt, die die Produktion bei der Auswahl der Kinderdarsteller in Kabul sowie der Drehorte walten ließ. Der Film entstand in China, an der Grenze zu Afghanistan: aus Sicherheitsgründen, die in Afghanistan auch immer mit Geld verbunden sind. Security hat ihren Preis.

In der Schreckenszeit der Taliban – in der Regel Paschtunen – kam es immer wieder zu Massakern an der Minderheit der Hazara. Nun auf einmal spricht die amerikanische Produktionsfirma, die sich aus diesem Grund zu einer Verschiebung des Filmstarts veranlasst sah, von der Gefahr ethnischer Spannungen. Möglicherweise verbringen die vier jungen Afghanen und ihre Angehörigen die nächsten Jahre in ihrem Luxusexil am Persischen Golf. Paramount will für die Kosten aufkommen.

Daraus ergibt sich eine seltsame Parallele zur Biografie von Khaled Hosseini, dem Autor des „Drachenläufers“. Hosseini, 1965 in Kabul als Sohn eines Diplomaten geboren, lebt seit 1980 in den USA. Vier Jahre zuvor hatte die Familie Afghanistan verlassen. Hosseini ist Arzt, „The Kite Runner“ sein erstes Buch. Neun Millionen Mal hat sich der Roman verkauft, er erschien in vierzig Ländern; eine Verfilmung war also nur eine Frage der Zeit.

Das Buch, und der Film bleibt ungewöhnlich dicht an der Vorlage, changiert zwischen Tatsachenbericht und Fiktion auf eine Art und Weise, die unangenehm aufstößt. „Nicht ohne meine Tochter“ von Betty Mahmoody erzählt eine ähnlich gelagerte Story aus dem Iran. „Drachenläufer“ ist das afghanische Pendant.

Ein Mann von gut vierzig Jahren, verheiratet, gut situiert in Kalifornien, kehrt nach Afghanistan zurück, um seinen Neffen, den Sohn seines Halbbruders, aus den Fängen der Taliban zu befreien. Es ist ein Himmelfahrtskommando. Er entschließt sich zu dem Schritt, weil er eine alte Schuld begleichen will. Er will sühnen, was er seinem Freund Jahrzehnte zuvor angetan hat, als die beiden, Amir und Hassan, Kinder waren in Kabul, ein unschlagbares Drachenkämpferteam. Amir, wohlhabender Kaufmannssohn, schaut zu, als Hassan, das Kind einer Dienstbotin, vergewaltigt wird. Er greift nicht ein. Sein Leben lang quält ihn die Scham. Dass sie denselben Vater haben, erfährt er erst als Erwachsener.

Schon bei der Lektüre wirkt Hosseinis Erzählung wie ein verdammt gut ausgedachter Plot; viel zu gut. Wie bei so vielen erfolgreichen Romanen, die im Grunde längst ein eigenes Genre bilden, schlägt das spätere Drehbuch durch, schielen die Sätze auf die Leinwand. Hosseini lässt es an nichts fehlen, schon gar nicht am Happy End: der Familienzusammenführung. Liebe, Gewalt, Gewissenskonflikte, Landeskunde und – sehr wenig – Politik: Alles liegt fein säuberlich nebeneinander. Und die Symbolik der Drachen ist schlagend. Freiheit, Wildheit, Stolz: Heute fliegen die bunten Drachen wieder über Kabul, jetzt im Winter ist die Saison der Wettkämpfe. Die Taliban hatten den Nationalsport verboten.

Herrliche, epische Landschaftsaufnahmen. Forster lässt sich das nicht entgehen. Der Film nimmt sich viel Zeit. Er geht mit Gewalt recht sparsam um, nicht spekulativ. Trotzdem wirkt der Kampf des einsamen Helden mit den Taliban, die Befreiung des Jungen wie ein kitschiges Märchen. Mit seltsamer Zögerlichkeit beginnt dieser Film immer wieder von vorn; in den USA, in Pakistan, im Kabul der siebziger Jahre – und wieder in Amerika. Er leidet, bei all der Herzenswärme, die er ausstrahlen will, an schweren Rhythmusstörungen.

Zwei Jungen aus Kabul: Zekiria Ebrahimi spielt den Amir, Ahmad Khan Mahmoodzada den Hassan. Wer weiß, wann und ob man wieder von ihnen hört. Sie sind dieser Film. Wie sie miteinander reden, sich anschauen, wie das geschieht, was die Großen Verrat und Verdrängung nennen, das vergisst man nicht. So bewegend sind die Rückblenden in diesem Film, der keine Gegenwart hat. Marc Forster übrigens ist der Regisseur des neuen James Bond.

Ab Donnerstag in den Berliner Kinos Capitol, Cinema Paris, Cinemaxx Potsdamer Platz, International, Kino in der Kulturbrauerei, Yorck, CineStar Sony Center (OV), Odeon (OmU).

Rüdiger Schaper

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