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Kinostarts: Steh auf und geh

Wunderglaube und Zweifelsmanifest: Jessica Hausners „Lourdes“ staunt über den Alltag des Wallfahrtsorts.

Ein Film über Lourdes, in dem ein Wunder geschieht? Nein, unmöglich. Andererseits: Ein Film über Lourdes, in dem kein Wunder geschieht? Wie trivial. Als ob uns mit allen Weihwassern der Aufklärung Gewaschenen noch jemand beweisen müsste, dass selbst in Lourdes keine Wunder geschehen. Also her mit dem Wunder. Bleibt nur ein Problem: Rein ästhetisch betrachtet sind Wunder Kitsch. Wo ein Realwunder geschieht, ist das Filmwunder gemeinhin zu Ende.

Dass es sich bei „Lourdes“ der Österreicherin Jessica Hausner um ein außerordentliches Stück Glaubenskino handelt, erkennt man schon daran, mit welcher Selbstverständlichkeit und Beiläufigkeit die junge gelähmte Christine (Sylvie Testud) eines Nachts einfach aufsteht. Das Wunder – es ist nicht einmal peinlich.

Christine gehört ohnehin nicht zu den größten Bittenden vor dem Herrn. Eigentlich hätte sie viel lieber wieder eine Kulturreise nach Rom gemacht. Aber wer wie sie im Rollstuhl sitzt, nicht einmal seine Hände bewegen kann, hat keine Wahl. Der muss mit nach Lourdes, auch wenn er überall sonst lieber wäre. Christines Schicksal heißt Multiple Sklerose. Immerhin, da ist ein junger Malteser, der war schon mit in Rom. Sie begrüßen sich. Da schaut die junge Malteser-Schwester, die Christine betreut, zum ersten Mal auf ihren Schützling, als sei auch Christine eine junge Frau wie sie. Aber das täuscht, weiß Schwester Maria, MS ist MS.

„Lourdes“ lebt von solch feinen Wahrnehmungen. Die Kranken und die Gesunden, das sind zwei Welten, und da sind keine Brücken zwischen ihnen, nur manchmal in Christines Augen.

Zum ersten Mal sahen wir die Französin Sylvie Testud vor 14 Jahren in Caroline Links „Jenseits der Stille“: Die Tochter gehörloser Eltern findet zur Musik. Schon damals musste sie vor allem mit den Augen, mit Gesten zu sprechen können. Hier wieder. Und wenn Sylvie Testud ihre Christine doch einmal einen ganzen Satz sagen lässt, ist es wie Erschrecken: „Bitte nicht hinters Ohr!“ Vielleicht ist das das zweite Mal, dass Schwester Maria aufmerkt. Ist es nicht egal, wo bei einer MS die Haare liegen? Das ist nicht Zynismus, das ist nur Realismus, verbunden mit einer gewissen Unbedarftheit des Gemüts. Letztere ist einer Lourdes-Teilnahme durchaus förderlich, das Frivole dieses Erlösungsmarathons könnte die zu Erlösenden sonst leicht starrköpfig machen.

Nirgends ist so viel Todesnähe versammelt wie in Lourdes, dabei hat das Ganze den Charme der etwas anderen Kaffeefahrt. „Ein böses Märchen“ hat Jessica Hausner ihren Film genannt. Sie will nichts entlarven, sonst hätte sie kaum die Erlaubnis bekommen, hier drehen zu dürfen. Die Katholiken sind der Ansicht, das „Lourdes-Erlebnis“ sei „akkurat und ausführlich“ dargestellt. Vielleicht fehlt ihnen der böse Blick einer Christine.

Aus eigener Kraft kann sie nicht einmal die Wände der heiligen Grotte berühren, dort, wo die heilige Jungfrau dem Bauernmädchen Bernadette Soubirous seit dem 11. Februar 1858 18 Mal erschienen sein soll. In langen Reihen ziehen die Kranken die Grotte entlang, berühren die Wände mit dem vorchristlichen Gestus, der einmal alles war, auch alle Religion: der magische Glaube, Glaube an die Allbeseeltheit und Allwirkmächtigkeit der Natur.

Das hindert die Geistlichen nicht, sich am Abend eines langen Lourdes-Tages Witze zu erzählen. Gott, der Heilige Geist und Maria wollen gemeinsam verreisen. Nach Jerusalem? Nein, sagt der Heilige Geist, da waren wir schon so oft. Rom? Bloß nicht, da fahren wir auch ständig hin. Und nach Lourdes? O ja, ruft die heilige Jungfrau und springt auf, da war ich noch nie!

Nur Christine hat meistens diesen Blick: „Wäre ich doch in Rom!“ Und dennoch steht sie eines Nachts einfach auf. Wohin geht eine Lahme, die wieder laufen kann? Ins Bad. Christine kämmt sich – die Haare nicht hinters Ohr. Ein Wunder oder nur eine der typischen atypischen Verlaufsformen von Multiple Sklerose? Egal, es ist ein Wunder, von einem Augenblick zum nächsten zu einem normalen Leben aufstehen zu dürfen. Und dann die stumme, lauter werdende Frage der Nichterlösten: Warum die? Warum nicht ich?

Hausner hat eine Kollektivstudie der Erlösungsbedürftigkeit gedreht, zugleich eine der Konkurrenz vor Gott. Hausner weiß, Erlösungsbedürftigkeit lässt sich nicht entlarven. Und der Glaube ist ihr wohl ebenso verdächtig wie der Unglaube. Vielleicht ist das überhaupt die einzig mögliche Haltung gegenüber der Religion – zumindest für religiös begabte Zweiflerinnen wie Jessica Hausner.

Capitol, Cinema Paris (auch OmU), Cinemaxx Potsdamer Platz, Filmtheater Friedrichshain, Kulturbrauerei, Neues Off

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