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Zum 100. Geburtstag: Kurt Maetzig: "Nicht schlecht, was?"

Er drehte DDR-Propaganda, für die er sich schämt, und Filme, die die Sprache verschlugen. Am Dienstag wird Kurt Maetzig 100 Jahre alt – und er scheint vollkommen frei zu sein vom Bedürfnis, das eigene Leben zu rechtfertigen.

Die Taxifahrerin will die Adresse wissen. Aber er hat keine. Er wohnt da, wo die Straßen keine Namen mehr tragen. Die Röbeler Kleintransportunternehmerin schaut mecklenburgisch missbilligend. Besser, sie erfährt jetzt nicht, dass der Mann, den sie finden soll, gleich 100 Jahre alt wird. Ein Eremit biblischen Alters ohne Anschrift irgendwo zwischen Himmel und Erde bei ihr um die Ecke?

Dabei kann jeder durchschnittliche Realitätssinn an Kurt Maetzig seekrank werden: Der Charlottenburger Großbürgersohn debütierte 1946 mit dem Bilddokument der Vereinigung von KPD und SPD zur SED, um dann den letzten gesamtdeutschen Kinogroßerfolg „Ehe im Schatten“ zu drehen, bald gefolgt von den beiden größten Propagandafilmen der DDR. Teil 1 hieß „Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse“, Teil 2 hieß „Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse“, und beide erbrachten den Nachweis, dass sie sich ganz auf der Höhe ihrer Titel befanden. Einer toten Denkmalsockelhöhe. Auf diesen Regisseur kann die Arbeiter- und Bauernmacht sich verlassen, dachte Walter Ulbricht, mag er auch ein Abkömmling der parasitären Ausbeuterklasse sein. Dachte es genau bis zum Vorabend des 11. Plenums des ZK der SED, an dem er den Film „Das Kaninchen bin ich“ sah. Das war 1965. Das DDR-feindliche Filmschaffen hatte plötzlich einen Namen, den es bis zum Ende behielt: „Kaninchenfilm“.

Maetzig weiß, dass er inzwischen eine Sehenswürdigkeit ist. Er kommt eine steile, auf der offenen Seite geländerlose Stiege hinab, nur um vorzuschlagen, sie gleich wieder hinaufzusteigen. Das ist die Höflichkeit der Hundertjährigen. Als er die besorgten Blicke der Gäste bemerkt, sagt er nur: „Ich kann es mir nicht leisten, das nicht zu können.“ Maetzig spricht mit großer Deutlichkeit der Endungen. Nur wer klar spricht, findet er, kann auch klar denken. Gemessen an der Wachheit dieses Mannes gleicht das gewöhnliche Dasein der gewöhnlichen Menschen einer Art Halbschlaf. Er habe da oben etwas, was zu sehen sich lohnt.

Kurt Maetzig gehört zu der vielleicht nicht allzu großen Gruppe der Hundertjährigen, die auf eine E-Mail sofort antworten und eine eigene Internetseite besitzen. Sein Computer steht im ersten Stock. Vor dem Arbeitszimmerfenster hockt der Januarnebel. Er hat sich den ganzen Tag nicht gehoben. Schwer zu sagen, wo da draußen die Erde aufhört, wo der Himmel anfängt. Diesen Punkt hat Kurt Maetzig immer gesucht, erst mehr technisch, dann mehr gesellschaftsgeografisch. Und unter besonderer Berücksichtigung der Frage, ob und wie weit er sich verschieben lässt.

Dass das Allerwirklichste und Allerwirksamste unsichtbar ist und die harte Trennung von Himmel und Erde vielleicht nur ein Vorurteil der allzu terrestrisch Gesinnten, gehört zu seinen frühen, prägenden Erfahrungen. „Da war ich zwölf“, sagt Maetzig, öffnet einen alten Bauernschrank, der einen riesigen Monitor freigibt. Auf dem erscheint er nun selbst und spricht über den Radiohörer Nummer 1 von Berlin-Charlottenburg. Es ist ein Filminterview, das am heutigen Dienstag zu seinem Geburtstag in der Berliner Akademie der Künste gezeigt werden soll.

Kurt Maetzig beobachtet Kurt Maetzig. In seinem Blick steht zunehmendes Wohlwollen. „Nicht schlecht, was?“ Mit zwölf Jahren, im Vorradiozeitalter baute sich der Bürgersohn sein erstes Radio aus dem, was sich an Restbeständen der Funktechnik aus dem Ersten Weltkrieg auftreiben ließ, und nach den Informationen eines Mitschülers, dessen Vater Ingenieur war. Als das Gerät fertig war, hörte sein Konstrukteur – nichts. Und das blieb so, wochenlang. Andere hätten zu zweifeln begonnen. Er nicht. Die Avantgarde muss das Nichts aushalten! Und dann war es da: ein Rauschen im Apparat, und durch das Rauschen hindurch verkündete eine blecherne Stimme, dies sei die erste Probesendung der Berliner Funkstunde. Der Beginn des Radiozeitalters in Deutschland hatte einen Zeugen. Der Junge rannte zur Post, kaufte ein Abonnement und wurde Radiohörer Nummer 1 von Berlin-Charlottenburg.

Einer muss immer der Erste sein. Am besten also, man ist es gleich selbst. Und sollte das, was technisch möglich war, nicht auch gesellschaftstechnisch möglich sein? In gewissem Sinne kam der Gesellschaftskonstrukteur Maetzig dem Radiokonstrukteur Maetzig sogar noch zuvor. „Ich las Bebels ‚Die Frau und der Sozialismus’, da war ich acht“, sagt er in beiläufigem Ton. Seine Mutter habe ihm das Buch statt eines Karl-May-Romans gegeben, er habe seine Mutter sehr geliebt, also wusste er bald mehr über die Frauen und den Sozialismus als alle übrigen achtjährigen Charlottenburger zusammen.

Wahrscheinlich hat sich die Lebenszuversicht der Tochter einer wohlhabenden jüdischen Hamburger Teehändlersfamilie auf den Sohn übertragen. Und ihre Daseinsbewältigungauffassung sowieso: „Es gibt grundsätzlich zwei bis 17 Möglichkeiten, hat sie immer gesagt“, erklärt Maetzig, und ein Lachen steht in den Linien seines schönen Altersgesichts. Überhaupt scheint es, als habe er nur Lachfalten. Und dieser Mann hat die „Thälmannfilme“ gemacht, in denen der Schauspieler Günter Simon von Anfang bis Ende die trotzige Arbeiterfaust himmelwärts ballte? Je länger man Maetzig kennt, desto mehr scheint er als Kommunist gänzlich ungeeignet. Zwei bis 17 Möglichkeiten trafen auf nur eine?

In der Tat deutete lange nichts auf den Kommunisten Kurt Maetzig hin. Der Sohn des Besitzers einer Filmkopieranstalt studierte in München Chemie, Ingenieur-, Volks- und Betriebswirtschaft, ergänzte dies an der Pariser Sorbonne bereitwillig um allerlei Rechtskenntnisse, um schließlich über das „Rechnungswesen einer Filmkopier-Anstalt“ zu promovieren. Der Film war eine vergleichsweise neue Möglichkeit, sehr viel Geld zu verdienen, und genau das hatte er vor. Zur Sicherheit wurde er noch Diplomkaufmann. Bald betrieb er ein Trickfilmatelier in der Friedrichstraße, produzierte Werbefilme, Vor- und Abspänne. Natürlich, auch er hatte als kleiner Junge Charlie Chaplins „The Kid“ gesehen und nie wieder vergessen. Aber all die Träumer auf und vor der Leinwand täuschten ihn doch nicht über das Grundlegende hinweg: Das Kino ist nicht Charlie Chaplin. Das Kino ist ein Wirtschaftszweig.

Doch dann sah seine offene, heitere Mutter statt fast 20 nur noch eine Möglichkeit, eine unwiderrufliche zudem: Selbstmord. Sie nahm Gift. Die Jüdin hatte den Deportationsbescheid erhalten. Der Sohn, der bei ihr war, konnte es nicht verhindern. Er brachte sie ins Krankenhaus, wohl wissend, dass deutsche Krankenhäuser längst keine Orte mehr waren, die sterbenden Jüdinnen halfen. Aber man nahm sie auf, die Personalien nicht. Ihr letzter Wunsch war ein christliches Begräbnis. Wusste sie nicht, wie sie ihren Sohn damit in Gefahr brachte? Kurt Maetzig fand einen Pfarrer, der seine jüdische Mutter begrub. Alles Menschliche, alles Richtige schien plötzlich eine Art Wahnsinn zu sein, und jeder Wahnsinn das irgendwie Richtige: etwa, dass sein katholischer Vater sich hatte scheiden lassen, um nicht enteignet zu werden. Der Konstruktionsfehler einer Welt, die das zuließ, musste grundlegend sein.

„Ich sehe mich noch heute mit meinem Freund Robert Rompe über die Warschauer Brücke gehen, und er fragte mich, ob ich in die Kommunistische Partei eintreten will“, sagt Maetzig. Sein Blick verrät, wie sich ihm da alle Zeit in einem Punkt zusammenzog. War die Möglichkeitswelt gar eine Täuschung? Kommt es im Leben in Wahrheit auf Entscheidungen an, lebensgefährliche gar, hier und heute, dafür oder dagegen?

1944 wurde Kurt Maetzig Mitglied der Untergrund-KPD, um nur ein Jahr später in Berlin-Charlottenburg mit der Einrichtung der neuen Welt zu beginnen. Als der frühere Leiter des Trickfilmstudios dort gleich nach Kriegsende ein fast funktionsfähiges Filmatelier der Luftwaffe fand, machte er seinen neuen Mitarbeitern eine klassenuntypische Mitteilung. Dies sei ein volkseigener Betrieb, erklärte er, was bedeute, bei Erfolg würde geteilt. Doch plötzlich habe ein Herr vor der Tür gestanden mit der Auskunft, er habe diesen Betrieb soeben von den Amerikanern erworben. „Falscher Sektor“, fasst Maetzig den Fortgang zusammen.

Die Amerikaner luden ihn nach Amerika ein, in seiner Eigenschaft als filmtechnischer Erfinder. Einladung bedeutete damals, bei Russen wie Amerikanern, dass man sich der Fachleute versicherte, die man brauchen konnte. Da wechselte der Neukommunist die Zone, besann sich seiner kaufmännischen Fähigkeiten und seines alten Talents, der Erste zu sein: „So habe ich im Osten die erste Aktiengesellschaft gegründet.“ Das wurde dann die DEFA. Und die wiederum, fand er, sollte mit einer Wochenschau beginnen. „Im Februar 1946 fingen wir an“, sagt Maetzig, „im Westen hatten sie erst 1950 eine Wochenschau, die nicht von den Alliierten gemacht wurde.“ Den Slogan hatte er sofort: „Sie sehen selbst! Sie hören selbst! Urteilen Sie selbst!“ Denn eine bessere Gesellschaft ergebe sich genau dann, wenn alle selbst einsehen dürften, woran sie glauben sollen. Die DDR ließ diesen Vorspruch des „Augenzeugen“ später lieber weg.

Vielleicht wäre aus dem technischen und nunmehr auch weltanschaulichen Avantgardisten nie der Regisseur Kurt Maetzig geworden, hätte nicht irgendwann jene Handvoll Schreibmaschinenseiten auf seinem Tisch gelegen: die Idee zu einem Film nach dem wahren Schicksal des Schauspielers Joachim Gottschalk, der mit seiner jüdischen Frau gemeinsam Selbstmord beging, nachdem die Nationalsozialisten auch ihn bedrängt hatten, sich scheiden zu lassen. Diesen Film, wusste Maetzig, muss ich selbst machen.

„Ehe im Schatten“, der erfolgreichste deutsche Film der Nachkriegszeit entstand. Mehr als zwölf Millionen Zuschauer. „Er kam am gleichen Tag in allen vier Sektoren ins Kino“, erinnert sich Ma etzig, „und überall waren die Reaktionen gleich, als der Abspann lief. Statt Beifall Totenstille. Die Menschen blieben sitzen und gingen dann schweigend hinaus“. Nur Brecht stöhnte gequält: Was für ein Kitsch! – Von Brecht aus gesehen, hatte Brecht natürlich recht. Kurt Maetzig weiß das genau. Er habe da, rein ästhetisch, den vielleicht letzten großen Ufa-Film gedreht.

Und trotzdem, der Regisseur war beeindruckt von sich: Solche Wirkungen können Bilder also haben. Sollte der dann nicht auch einen Film über Ernst Thälmann schaffen, überlegten bald die führenden Genossen. In Kurt Maetzigs Arbeitszimmer hängen, schräg gegenüber, zwei Bilder. Das eine ist ein Holzschnitt und zeigt auffliegende Kraniche. Wo die Erde aufhört und der Himmel anfängt, begreift man besser aus der Kranichperspektive. Der feste Boden der Tatsachen ist nichts als ein Vorurteil. Das Foto gegenüber zeigt einen Mann unter einem Galgen mit Schlinge um den Hals. „Das ist Erich Engel, mein Vorbild“, erklärt der gleich Hundertjährige. Aber eigentlich ist er es auch selbst. Der Überflieger mit der Schlinge um den Hals?

Kurt Maetzig hat den Lebens- als Welterfahrungsweg eines Dienstmädchens verfilmt („Die Buntkarierten“ 1947), er enthüllte schon 1950 aufgrund der Nürnberger Protokolle, was die IG Farben mit Auschwitz zu tun hatten („Der Rat der Götter“). Der Großstädter verfolgte, wie ein Dorf aus uralter Tradition in den Sozialismus aufbricht („Schlösser und Katen“ 1957), und er drehte den ersten Science-Fiction-Film der DDR („Der schweigende Stern“ 1960). Auf seinem Gesicht kann fast schon eine Zärtlichkeit fürs Eigene liegen, wenn er über seine Filme spricht, aber er ist fast übergangslos auch zu einer künstleruntypischen Kälte gegen sich fähig. Nein, ein wirkliches Meisterwerk habe er wohl nicht geschaffen. Und er schäme sich für die „Thälmann“-Filme. Und dafür, sich für „Das Kaninchen bin ich“ bei seiner Partei entschuldigt zu haben. Er erklärte das einmal so: „Wenn Sie eine Lokomotive auf sich zurasen sehen, machen Sie instinktiv einen Schritt zur Seite.“

„Das Kaninchen bin ich“ handelt von einem Mädchen, das einen jungen Richter liebt, und der ist, obwohl ein sozialistischer Richter, trotzdem ein Schwein. Solche gibt’s gar nicht, riefen Maetzigs Genossen klassenkämpferisch auf dem 11. Plenum des ZK der SED. Und auch er glaubte irgendwann, was er nicht glaubte.

Dieser Regisseur scheint vollkommen frei zu sein von dem Bedürfnis so vieler Menschen, das eigene Leben zu rechtfertigen. Vielleicht ist das die Lauterkeit des Technikers und Erfinders Maetzig. Irrtum ist Irrtum, Versagen ist Versagen.

Das Altwerden ist nichts für Feiglinge. Es ist eine Kunstform und hat viele Feinde: etwa die Bitterkeit. Es gelingt wohl nur Menschen so eindrucksvoll wie ihm, die befreundet sein können mit sich. Dogmatiker schaffen das nie. Sein Lebensirrtum? Vielleicht der Glaube, dass alles viel schneller ginge. Und nach „Ehe im Schatten“ wohl auch der Glaube, dass das Kino ganze Welten umwerfen kann, Bewusstseinswelten zumindest.

Die Rede seiner Mutter von der Welt als eine der zwei bis 17 Möglichkeiten statt der einen großen, unwiderruflichen Entscheidung, stimmte wohl doch. Aber die große Entscheidung, die starke Bindung gehörte nun einmal zu seinem Leben. Leider können die schwach Gebundenen – und alle Heutigen, alle Möglichkeitsmenschen sind schwach Gebundene – die anderen so schlecht verstehen. Starke Bindungen zerschlägt man nie ganz, selbst wenn die innere Entfernung unendlich wird. Auch die Rolle des proletarisch-revolutionären Rüpels à la Biermann stand dem Charlottenburger Bürgersohn nicht zu Gebote. Aber an seinem 65. Geburtstag erklärte er der von ihm gegründeten Filmgesellschaft, dass er sich nunmehr in den Ruhestand zurückziehe. Womit er den Gesamtruhestand des Gemeinwesens nur vorwegnehme, hätte er hinzufügen können. Zu viele Kompromisse. Zu viele Halbheiten. Die machen so müde.

Und jetzt lese ich noch etwas vor, sagt Kurt Maetzig hellwach und greift nach der großen blauen Mappe vor sich. Wer keine Filme mehr drehen kann, kann doch noch immer Geschichten schreiben, vor allem autobiografische, und das macht er schon lange. Etwa die, wie er Brecht seinen besten Schauspieler wegnahm. Oder wie er einem sozialistischen Kaufhallendirektor in Friedrichshain zehn Flaschen Bier vor den Füßen zerschlug, einzeln, nacheinander, und sich anschließend „wegen Rowdytums“ verantworten musste. Der sozialistische Einzelhändler hatte ihm befohlen, er solle alles sofort wieder hinstellen. Das sei falsch vergoren, das sei „Mumpe“. Mag ja sein, aber was ist das für ein Land, in dem schon jede Kaufhalle ihren eigenen Diktator besitzt? Wahrscheinlich glaubt Maetzig, der bereits drei Gesellschaftssysteme überlebt hat – das Kaiserreich, den Nationalsozialismus und den Sozialismus –, die DDR kann höchstens eine von 17 historischen Möglichkeiten gewesen sein. Und dazu falsch vergoren. Mumpe eben.

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