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Kino: Leben ist Überleben

Monumental und eigenwillig: Sergej Bodrows „Der Mongole“ erzählt die Jugend von Dschingis Khan

Es ist knapp 20 Jahre her, da brannte sich der 75 Minuten kurze Spielfilm eines weithin unbekannten Russen unverlierbar ins Gedächtnis: „S. E. R. – Freiheit ist ein Paradies“. Der Held: ein 13-jähriger Junge, Waise offenbar, der immer wieder aus der Besserungsanstalt ausbricht. Eines Tages erfährt er, dass sein Vater am Leben ist, in einem Gefängnis am Polarkreis. Also schlägt der Junge sich Tausende von Kilometern nach Norden durch, schweigsam und stark. Die kurze, wortkarge Begegnung zwischen Vater und Sohn gehört zu den großen Augenblicken der Filmgeschichte.

Man muss Sergej Bodrows „S. E. R.“ nicht kennen, um „Der Mongole“ zu verstehen. Aber man versteht diesen Monumentalfilm, der so anders ist als die geläufigen Genre-Angebote, dann vielleicht noch besser. Denn die fulminante Wiedererfindung der Jugend des Dschingis Khan erzählt – nach Bodrows eigenem Drehbuch – von der Freiheit, die ein Paradies ist. Also: von Gefangenschaft. Von Vätern und Söhnen auch. Und von Liebe, die sich um Gefängnis und Zeit und Raum und Leben und Tod nicht schert. Auch „Der Mongole“, dieses Epos mit Tausenden von Statisten und überwältigenden Landschaften in Cinemascope, erzählt zuallererst vom Unverlierbaren.

Temudgin ist neun, als sein Vater, ein Clanführer, vergiftet wird. Denn Temudgin ist nicht zur Brautschau bei einem verfeindeten Clan eingetroffen, mit dem sich der Vater versöhnen wollte; stattdessen hat er während einer Rast der selbstbewussten, zehnjährigen Borte die Hochzeit versprochen – und der Vater ließ die ernsthafte Kinderverabredung gelten. Nach dem Tod des Khan herrscht Aufruhr im Clan. Der Sohn, sein legitimer Nachfolger, wird gefangengesetzt und nur deshalb nicht gleich umgebracht, weil Mongolen nie ihre Kinder töten.

Fortan bewegt sich Temudgins Leben zwischen Gefangenschaft und Flucht, zwischen kriegerischer Rückholung der gekidnappten Borte und ihrem erneuten Verlust, zwischen Freundschaft und Feindschaft und neuem Krieg. Und irgendwann hat er einen Sohn und später auch eine Tochter mit seiner jahrelang hierhin gefangenen und dorthin verkauften Frau. Ob die Kinder von ihm sind oder von ihren Kerkermeistern? Ist das wichtig, wenn er sie liebt?

Es ist das dreckverkrustete Gesicht des Hauptdarstellers Tadanobu Asano, das zuerst aus dem Dunkel aufscheint, das Gesicht eines Weggesperrten, eine Haut wie die Wüste nach der Dürre. Und nach einer langen Rückblende – behutsam holt das Schleppnetz der Erinnerung ein Leben ein – findet der Film zu diesem Gesicht zurück, seinem eindrücklichen Mittelpunkt, um sich erneut voranzubewegen auf eine immer größere Zukunft hin. Als sie so groß wird, dass die Heere nur noch digital darstellbar sind, sucht der Film bald sein Ende. Das Feldherrenmenschentum und seine Einvernahme durch die Geschichtsschreibungen interessieren Bodrow nicht; nur der Weg eines gepeinigten Menschen aus seiner nichtverschuldeten Unmündigkeit.

Ja, dieser Temudgin, der als Dschingis Khan die Mongolen einte und Anfang des 13. Jahrhunderts bis an Europas Ränder Schrecken verbreitete, ist in „Der Mongole“ ein Guter. Ein Held, aber einer der leisen Sorte. In einem Kolossalfilm der getöselosen Art – ungeachtet einiger wuchtiger Kampfszenen. Nichts hier ist bigger than life, sondern alles sorgfältig so entworfen, wie das Leben eines jungen Versprengten damals hätte sein und werden können. „Der Mongole“ atmet Ferne und eine unaufdringliche Feierlichkeit; nie auch ist die Musik von jenem nervtötenden Dauerfortissimo, mit dem das Genre sein Publikum gewöhnlich über dramaturgische Zweifel hinwegpeitscht.

Was aber von diesem Film vor allem bleibt: Wie ein Mensch sich zu sich selbst befreit, indem er den Vaterverlust ebenso annimmt wie das – hier höchst außergewöhnliche – Geschenk der Vaterschaft. Ein Lebensthema: Sechs Jahre nach „S. E. R.“ hat Bodrow, der den eigenen Vater erst mit 30 kennenlernte, den großartigen Antikriegsfilm „Gefangen im Kaukasus“ gedreht. Eine Hauptrolle spielte Bodrows Sohn Sergej, der durch dieses Werk zum Star wurde und 2002 bei Dreharbeiten ums Leben kam. Auch das muss nicht wissen, wer „Der Mongole“ sieht, den eigenwilligsten Superheldenfilm der Welt.

In neun Berliner Kinos

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