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Netzow Weiße Band

© cinetext

Netzow: Die Auserwählten

Wieso Michael Haneke gerade hier drehen wollte, wissen sie in Netzow bis heute nicht genau. Als Kulisse für "Das weiße Band" könnte das Prignitzdorf nun zu Oscar-Ehren kommen.

Anneliese Globke glaubte an einen Scherz. Es war ein Septemberabend im Jahr 2007. Die Briefträgerin hatte die Post ausgefahren, war gerade von ihrer Runde mit dem Auto über die Dörfer zurückgekehrt, als ihr Telefon klingelte. „Hören Sie mal zu, wir möchten einen Film drehen, ihr Dorf wäre perfekt“, erklärte ihr eine unbekannte Männerstimme. „Ich habe gedacht, der will mich veralbern“, erinnert sich die 50-Jährige. Anneliese Globke ist nicht nur Postbotin. Als Ortsvorsteherin des Prignitzdörfchens Netzow, 130 Kilometer nordwestlich von Berlin, leitet sie auch den Dorfverein, der sich um das gesellschaftliche Leben kümmert und Feiern organisiert. Dafür musste sie jetzt nicht mehr viel machen. Das Leben in Netzow sollte sich nach dem Anruf von selbst ändern. Als karge Kulisse für Michael Hanekes Film „Das weiße Band“ wurde Netzow bekannt.

Es ist ein kühler und windiger Tag Anfang März. In der grellen Frühlingssonne wirken die Backsteinhäuser, die sich in der Netzower Dorfstraße rund um den Anger mit der Feldsteinkirche aufreihen, wie aus Papier geschnitten. Durch die Scheunentore und über den Gartenzäunen öffnet sich der Blick auf Felder und den Wald dahinter. Es riecht nach nasser Erde, Stroh, Rauch – und es ist still. Kein Mensch ist auf der Straße unterwegs, Vögel zwitschern, ein Hahn kräht, ein Hund bellt.

Warum Haneke, der österreichische Regisseur, ausgerechnet hier drehen wollte? Darüber können die Netzower nur rätseln. „Netzow ist eigentlich ein ganz normales Straßendorf“, sagt Bürgermeisterin Gudrun Hoffmann und fügt hinzu, was viele hier denken: „Der Regisseur hat den Ort eben auserwählt.“ Tatsächlich hat Hanekes Filmteam hunderte von möglichst ursprünglich erhaltenen Dörfern bereist, fotografiert und skizziert, erzählt Produzent Stefan Arndt von der Berliner Firma X-Filme: „Wir haben von Polen bis Frankreich gesucht und sind vor der Haustür fündig geworden.“ Netzow habe „einfach gepasst“, sagt er. Der Ort sei „am wenigsten versaut“ gewesen. Was wohl heißen soll: von keinerlei Modernisierung verschandelt, ursprünglich und vergessen.

Von der Welt abgeschnitten wirkt auch Eichwalde. So heißt Netzow in „Das weiße Band“, der verstörenden Geschichte eines jungen Lehrers, der kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Stelle an einer Dorfschule antritt und bald einen furchtbaren Verdacht hegt: Dass seine Schulkinder hinter einer Reihe von Unglücksfällen stecken, die die Dorfgemeinschaft in Aufruhr versetzt. Das düstere Schwarz-Weiß-Drama wurde in Cannes mit der „Goldenen Palme“ ausgezeichnet, gewann beim Europäischen Filmpreis und bei den Golden Globes und könnte am Sonntag den „Oscar“ erhalten. Die Preisverleihung im Kodak Theatre in Los Angeles wird auch im deutschen Fernsehen übertragen – mitten in der Nacht.

„Na klar, das gucken wir“, sagt Rosemarie Hinz und fährt sich lachend durch die kurzen blonden Haare. Ihr Schäferhund Rex sitzt mit im Büro der Agrargenossenschaft Netzow, ein grau gewordener Flachbau im Westteil des Dorfes. „Keine Zukunft ohne Kuh-Zunft“ behauptet ein Aufkleber an der Eingangstür, an der Flurwand prangen Auszeichnungen, darunter gleich mehrere rot-weiße Wimpel „für hervorragende Leistungen im sozialistischen Wettbewerb“. 1990 haben hier noch rund 100 Leute gearbeitet, Rosemarie Hinz ist eine von elf Beschäftigten, die bleiben konnten. Statt den einst 1500 Bullen gibt es jetzt gerade mal 30, und auch die sollen abgebaut werden. In Zukunft will die Agrargenossenschaft auf Milchwirtschaft und Ackerbau setzen.

Auch für Annedore Dahl ist die Oscar-Verleihung ein Pflichttermin: „Da stehen wir eben nachts wieder auf“, sagt die frühere Wirtin von Dahls Gasthof. Die 67-Jährige hat ihre Gaststätte 2007 nach 43 Jahren hinter dem Tresen geschlossen. Nun holt sie ein Exemplar der Dorfchronik aus der Schrankwand. Vor fast 700 Jahren wurde Netzow erstmals urkundlich erwähnt, 1734 gab es 139 Einwohner. Heute sind es vier weniger. Netzow hat Glück gehabt: Während das Flächenland Brandenburg seit Jahren Einwohner an konjunkturstärkere Regionen verliert – 2009 waren es wieder 6800 – und über Maßnahmen gegen die Landflucht diskutiert, sagt eine Kosmetikerin wie die 30-jährige Mandy Köhn, die vor zehn Jahren ins Dorf zog: „Netzow war ein richtiger Glücksgriff.“ 26 Kinder und Jugendliche wohnen heute hier, die mittlere Generation ist geblieben, von den 50 Häusern steht keines leer. Neu-Netzower fühlen sich wohl, schätzen den Zusammenhalt und die Feste, die der Feuerwehrverein und der Dorfverein organisieren – auch wenn die Älteren beklagen, dass es davon früher viel mehr gab. Tatsächlich sind die Zeiten, von denen „Das weiße Band“ berichtet und in denen sich das Dorfleben auch auf der Straße abspielte, vorbei: Die meisten Netzower pendeln täglich zur Arbeit, sogar bis Berlin oder Hamburg. Die anderen sind Selbstständige, arbeiten als Imker, Haustechniker, Landwirt.

Eine der letzten Versammlungen in Dahls Gasthof fand im Herbst 2007 statt, wenige Wochen nach dem denkwürdigen Anruf bei der Ortsvorsteherin. Das ganze Dorf kam. Die Filmleute stellten ihre Pläne vor. Der Regisseur war den Netzowern herzlich egal. Für sie war Haneke einfach der Mann, der die dringend nötige Straßensanierung verhinderte.

Jahrelang hatten die Netzower dafür gekämpft. Die Pflastersteinstraße mit zerfahrener Teerdecke war eine Katastrophe, „mehr Schlagloch als Straße“, sagt Bauamtsleiter Erich Hoffmann. Nun lag der Fördermittelbescheid auf dem Tisch, die Baufirma war schon beauftragt, im März 2008 sollte die Sanierung starten. Wenn nicht Haneke gekommen wäre. „Er wollte diesen alten Zustand“, erzählt Hoffmann. „Es war eine schwierige Entscheidung und ein Spagat“, erinnert sich Gudrun Hoffmann, die Bürgermeisterin der Gemeinde Plattenburg, zu der neben Netzow noch 21 weitere Prignitzdörfer gehören. Man habe viel geredet in Dahls Gasthof. Schließlich entschied sich die Gemeinde für den Film. Geld gab es dafür nicht, betont die Bürgermeisterin.

Aber dafür einen langen Sommer. Zwei Monate war Netzow im Ausnahmezustand. Das fing schon im Mai an, als die Kulissenbauer Netzow nach und nach in ein Dorf aus der Zeit um 1900 verwandelten: Antennen mussten abgeschraubt werden, die wenigen neueren Häuser wurden mit künstlichen Fassaden verblendet, Dachflächenfenster unter Gaubenattrappen versteckt, die Straßenlampen entfernt, die kaputte Straße ganz weggerissen und zum Feldweg „aufgeschottert“. Auch Hühner mussten ins Dorf gebracht werden. Nicht, dass es in Netzow an Federvieh gemangelt hätte. Aber Haneke wollte eine bestimmte zeittypische Rasse für seinen Film.

Mit Drehstart am 9. Juni passte sich das Dorfleben dem Drehplan an: Die Bewohner fuhren mit ihren Autos Umwege, die Mülltonnen wurden am anderen Ende des Dorfs abgestellt, damit der Müllwagen nicht in die Szene platzte.

Etliche Netzower waren auch vor der Kamera dabei: „Mein Sohn ist beim Mähen zu sehen“, erzählt Annedore Dahl. Auch in der Nachtszene im Wald sei er als Fackelträger dabei, ganz links. Erkennen kann man ihn nicht, für die Großaufnahmen der vergerbten Bauern ließ Haneke rumänische und polnische Charaktergesichter einfliegen. Doch die Netzower profitierten auch als Handwerker oder Vermieter. Die Agrargenossenschaft nahm die längst stillgelegte Kantinenküche wieder in Betrieb, wo die Kinderdarsteller in den Drehpausen spielten: „Diese Kostüme, das war richtig schön anzuschauen“, schwärmt eine Dorfbewohnerin.

Zum Hauptquartier des Filmstabs wurde der Hof von Volker Pagel. Der hünenhafte Mann, der seine Haare genauso kurz wie den Bart trägt, öffnet das Tor zu seiner Scheune: Hier wurden die Schauspieler und Mitarbeiter an langen Tischen bewirtet, auch die Requisite kam hier unter. Heute bewahrt der 46-Jährige in der Scheune einen Teil der Kulissen auf: Holzfassaden und die Reste des Ärztehauses, das für den Film komplett neu aufgebaut worden war. Am Deckenbalken hängt ein Erntekranz, der auch im Film vorkommt: Den hat Pagels Frau, eine gebürtige Netzowerin, gemeinsam mit ihrer Mutter geflochten. Denn das Exemplar aus Kunstähren, das die Requisiteure dem Regisseur zunächst angeboten hatten, hätte Haneke gar nicht gefallen, berichtet Pagel.

Stolz sind sie im Dorf, auf ihren Film. Gesehen haben sie ihn vor dem offiziellen Kinostart bei einer Spezialvorführung, zu dem das Filmteam um Produzent Stefan Arndt sie ins nächstgelegene Kino in Wittenberge eingeladen hatte. In zwei Charterbussen reiste beinahe das gesamte Dorf an. „Bei uns wurde danach viel diskutiert“, sagt Anneliese Globke, die Postfrau. Die Netzower erkannten in dem Film nicht nur ihre Häuser und ihr Dorf wieder, sondern auch Geschichten, die ihnen ihre Eltern und Großeltern so oder so ähnlich erzählt hatten. „Wir haben auch in diesen Schulbänken gesessen“, sagt Annedore Dahl. „Im Film ist sehr authentisch festgehalten, wie das Leben auf dem Land wirklich mal war“, sagt Bürgermeisterin Gudrun Hoffmann.

Dass der Film und damit ihr Dorf weltweit solche Erfolge feiern würde, damit hatte dennoch keiner gerechnet. Einen Gedenkstein wollen sie aufstellen, noch in diesem Jahr, vor der Kirche. „Damit man weiß, hier wurde mal ein Film gedreht, damit das nicht verloren geht“, erklärt Ortsvorsteherin Anneliese Globke. Auch an ein kleines Museum wird gedacht.

Die neue Straße durch das Dorf ist im Frühjahr 2009 fertig geworden.

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