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Heimatkunde

© Promo

Ost-Expedition: Currywurst und Misstrauen

Ex-"Titanic"-Chefredakteur Martin Sonneborn hat sich ins frühere Grenzland gewagt - seine Dokumentation "Heimatkunde" ist eine beißende Satire auf DRR-Gläubigkeit und West-Ost-Klischees.

Großbeeren bei Berlin, ein Neubaugebiet. Martin Sonneborn läuft an einer mannshohen Hecke entlang, hinter der es raschelt.

"Hallo, ist da jemand? Ich suche eine ostdeutsche Familie, die hier in der Siedlung wohnen soll."

"Oh Gott, 'ne ostdeutsche. Ich weiß gar nicht, vielleicht die Richtung mal probieren."

"Aber sonst kennen Sie auch keine hier direkt?"

"Nee, wollte ich gerade sagen. Eigentlich alle aus dem Westen."

"Haben Sie sonst mal Puhdys-Musik gehört oder Leute in Jeansjacken gesehen?"

"Nee, da sieht man gar nicht so viele. Lieber mal in die Richtung, da trifft man mehr."

Und so zieht Martin Sonneborn weiter. Der frühere "Titanic"-Chefredakteur umwandert Berlin - 250 Kilometer in vier Wochen. Als Bundesvorsitzender der Satire-Partei "Die Partei" (Ziel: endgültige deutsche Teilung) will er sich inkognito ein Bild von der Stimmung rund um die Hauptstadt machen. Ziel seiner "Feldforschung" sei, so Sonneborn, herauszufinden, "ob sich 18 Jahre nach der Wende in der Peripherie neues Leben entwickelt hat und wie es aussieht". Die Methode: wandern - und filmen, was vor die Linse kommt.

Argloser Wandersmann

"Heimatkunde" gibt sich objektiv, ja fast schon wissenschaftlich, ist aber natürlich das genaue Gegenteil. Satire-Papst Sonneborn weiß, wie er die Menschen zum Reden bringt - seine gutmütige Erscheinung hilft ihm dabei. Mit Rucksack und Jeans wirkt der Zwei-Meter-Schlaks mit dem schütteren Haupthaar wie ein argloser Wandersmann. Das Kamerateam, das ihn begleitet, scheint die meisten Gesprächspartner nicht zu stören. Arglos geben sie dem Meister der versteckten Gemeinheit Auskunft.

Auf einer morschen Eisenbahnbrücke nahe Potsdam trifft unser Feldforscher einen Nudisten. Der eingefleischte FKK-Anhänger hat sich in die Einsamkeit geflüchtet, um nackert die Sonne zu genießen: "Manche in die Siedlung mögen det nich." Beinahe schockiert macht sich Sonneborn auf die Suche nach den Hintergründen dieser Ausgrenzung: "In einem Musterhaus hoffte ich mehr zu erfahren." Und erhält einen ersten Anhaltspunkt: Der Einfamilienhaustyp 1.2 mit Friesengiebel werde zu 99 Prozent von Westdeutschen gekauft, erfährt er. "Bei 380 Häusern mussten also 3,8 Häuser Ossis gehören."

Doch, oh weh, die Suche nach den "Ureinwohnern", wie Sonneborn sie nennt, bleibt lange erfolglos. Als Sonneborn dann endlich im nahen Stahnsdorf einen solchen findet, zeigt der ihm auch gleich die Errungenschaften der Nachwendezeit: ein Mahnmal gegen den Hitler-Faschismus, das von vier Hundekotbehältern umringt ist. Sonneborn bringt den aus Bayern importierten Stahnsdorfer Bürgermeister mit der Frage in Erklärungsnot, "in welchem Zusammenhang" die Behälter und das Mahnmal stünden. Tja nun ...

Modell-Plattenbauten: Fehlanzeige

Weiter geht es um Berlin herum, bei Regen und Sonnenschein, bei Tag und Nacht. Sonneborn bettet sich auf Pensionsbetten, nicht ohne vorher ausgiebig am Laken geschnüffelt zu haben. Er spricht Leute auf Plattenbau-Balkonen an, manchmal darf er sogar hochkommen und sich die Modelleisenbahn (ohne Modell-Plattenbauten) anschauen.

Jeder Hinweis auf versteckte Konflikte zwischen Ossis und Wessis macht unseren Feldforscher hellhörig, und er lässt nicht locker, bis er den Menschen die reine Wahrheit aus dem Ärmel geschüttelt hat. Auch 18 Jahre nach der Wiedervereinigung scheinen die Gräben tief. So wie auf dem Waschplatz der Hohen Neuendorfer Shell-Tankstelle: Woher er denn wisse, dass er aus dem Westen sei, fragt Sonneborn einen der dort zahlreich lungernden Jugendlichen. Die Antwort kommt prompt: "Ein Ossi hätte mich nicht gefragt, ob ich mal eben seine Bockwurst halten kann."

"Dieser Film wird das Land (wieder) spalten!" heißt es in einem Manifest von Sonneborns "Partei". Und tatsächlich könnte derjenige, der nicht mit dem nötigen Unernst gesegnet ist, diese Forschungsreise in den "dunklen Osten" durchaus übelnehmen. Alle anderen können sich über ein bissiges Stück Film-Satire freuen, das unaufgeregt daherkommt, aber voller urkomischer Szenen steckt: Wenn Sonneborn unweit des Flughafens Schönefeld frierend im Gummiplanschbecken badet und dabei mit dem Hausherren über einen Iljuschin-Absturz fachsimpelt - dann ist das ganz großes Kino. Anschauen!

"Heimatkunde"
Regie: Andreas Coerper/Martin Sonneborn
Darsteller: Martin Sonneborn
Dauer: 94 Minuten
Kinostart: 2. Oktober
Internet: die Website zum Film

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