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Russische Filmwoche Berlin: Ach, die russische Seele!

Groteske Landszenen, lakonische Kriegsdramen, schrille Komödien: Das Programm des Filmfestivals überprüft ein nationales Klischee. Über das Klischee ihrer schweren brütenden Seele denken auch die russischen Intellektuellen nach.

Das Land ist ein Superlativ: Russland. Groß, weit, unendlich reich, unendlich arm, voller Geschichte und Leidenschaft. Wenn ein Film wie „Admiral“ von Andrej Krawtschuk, der die Russische Filmwoche eröffnen wird, mit 6 Millionen Besuchern binnen weniger Wochen zum nationalen Kassenschlager wird, mag sich das für ein solches Riesenland im Verhältnis wenig anhören. Doch das zugrunde liegende Verhältnis ist ein anderes: die Kinoinfrastruktur des Landes ist alles andere als großartig.

Kino ist das Vergnügen der Städter. Dort wurde in neue Kinopaläste investiert, während sich Investitionen auf dem Land nicht lohnen. „Admiral“ (siehe dazu auch das Interview mit Regisseur Andrej Krawtschuk auf dieser Seite) steht nicht nur für pure Unterhaltung, wie sie im Westen die Massen ins Kino treibt, sondern für ein starkes Interesse an der eigenen Geschichte. Trotz Putin und seinem Bemühen ein einiges Russland zu schaffen, ist die Gesellschaft zerrissen, die sozialen Unterschiede und Ungerechtigkeiten enorm, die Identität der Nation erst im Wiederaufbau. Die Zeiten des Kommunismus sind vorbei, der Kapitalismus hat seine Fratze gezeigt, doch in einer neuen Zeit, einer neue Identität ist man noch nicht angekommen. Der neue russische Film erforscht den Gemütszustand, die Herkunft der russischen Nation. Es ist als ob er Aufbauarbeit leistet, als ob er all das an die Öffentlichkeit bringt und zur Diskussion stellt, was in den vergangenen Jahrzehnten nicht Thema war: „Wer sind wir?“ Diese Frage taucht in vielen Varianten auf, in dem Kriegsdrama „Der Gefangene“ von Alexej Utschitel ebenso wie auch in der melancholischen Liebeskomödie „Plus Eins“ von Oksana Bytschkowa.

Der Gefangene ist ein junger Tschetschene, der zwei zurückgebliebene russische Soldaten zu ihrem Konvoi in die Berge bringen soll. Im Mittelpunkt des Films steht dabei nicht, wie sie dies anstellen, sondern was es bedeutet, als Soldat seine Aufgabe zu erfüllen. In ruhigen, langen Einstellungen zeigt Utschitel den meist drögen Alltag der Soldaten. Angefangen vom Leben im Lager, wo man schnell seine Grundbedürfnisse mit Nahrungsaufnahme, Wodka und Sex stillt, bevor man mit dem ortskundigen Feind alleine weiterziehen muss. Derweil fraternisiert der Lagerkommandant mit den ortsansässigen Geschäftsleuten und zeigt keine Neigung, den Soldaten zu helfen. Auch der Rest des Films verfällt nicht in Hektik. Der Regisseur lässt sich bei diesem lediglich 80 Minuten langen Film Zeit. Es geht ihm darum dem Zuschauer ein Gefühl zu vermitteln; ihn in die Lage zu versetzen, körperlich und seelisch nachvollziehen zu können, dass Krieg eine Mischung aus Todesangst, Dahinvegetieren und Langeweile ist. „Der Gefangene“ hat beim Festival im Cottbus soeben den Hauptpreis erhalten.

Ruhige Einstellungen und eine gewisse Schwermut sind Markenzeichen des russischen Films. Der Thriller „Er löscht das Licht“ von Andrej Libenson ist zwar schnell und modern geschnitten und inszeniert, doch sein Held Kommissar Moiseew ist längst am Ende seiner psychischen Kräfte angekommen, so sehr lastet die scheinbar unlösbare Mordserie an jungen Mädchen auf ihm.

Des Klischees der schweren, brütenden russischen Seele ist man sich auch in Russland bewusst und Oksana Bytschkowa lässt Tom, den englischen Puppenspieler, jene Frage aussprechen, die man sich in anderen Teilen der Welt schon so oft gestellt haben mag: „Warum lachen die Menschen in Moskau eigentlich nie?“, will er von seiner muffeligen, 30-jährigen Übersetzerin Mascha in „Plus Eins“ wissen, übrigens der einzigen Komödie der russischen Filmwoche. Vielleicht weil „Mütterchen Russland“ wirklich nichts zu lachen hat? Am Ende von „Plus Eins“ hat Mascha Lachen und Lebensfreude gefunden. Sie ist glücklich. Doch die drei Kerle in riesigen Plüschtierverkleidungen, die sich Passanten für lustige Fotos anbieten, überlegen sich, wie sie Schengen-Visa erhalten. In Deutschland versprechen sie sich ein besseres Geschäft.

Und weit weg, beinahe am anderen Ende des Riesenreichs lebt in „Wildes Feld“ von Michail Kalatosischwili Mitya, ein Arzt, allein in der leeren Steppe und verzieht niemals sein Gesicht. Dann und wann kommt ein Besucher vorbei, um sich bei einem Problem helfen zu lassen. Einen Komasäufer kann er nur mit Hilfe eines glühenden Eisens vor dem Tod retten und dem Besitzer eines Rindviehs, der sein Tier schon an Altersschwäche sterben sieht, kann er Hoffnung machen. Die Apathie der Kuh rühre nur von einem verschluckten Tischtuch her, das wieder zum Vorschein kommen werde. Dem Arzt gefällt es so sehr in der Einöde, dass er sogar in Kauf nimmt, dass seine Freundin ebenfalls nur eine Besucherin unter anderen ist. Fröhlicher wird er dadurch jedoch nicht. Einen Film über einen glücklichen Menschen wollte er machen, sagt der Regisseur. Wenn Mitya nun der Maßstab für einen glücklichen Menschen ist, dann erhält der Gemütszustand der Figuren in all den anderen Filmen plötzlich ein komplett anderes, spannendes Gewicht.

Thomas Steiger

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