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Ziemlich beste Freunde: „Ich habe alles geklaut, was ich kriegen konnte“

Abdel Sellou wuchs in der Pariser Banlieue auf, saß im Knast, wollte nicht arbeiten. Bis er auf diesen Mann im Rollstuhl traf. Ein Gespräch über Joints, Kunst und Sarkozy.

Monsieur Sellou, vor genau einem Jahr kam die Geschichte Ihrer Freundschaft mit einem Schwerbehinderten in die deutschen Kinos. Wie ist Ihr Leben nach dem riesigen Erfolg von „Ziemlich beste Freunde“?

Es hat sich wenig verändert, jedenfalls finanziell. Die Filmrechte haben wir an Behindertenzentren übertragen. Bewegt ist höchstens meine familiäre Situation, ich habe drei Kinder, sieben, sechs und fünf Jahre alt. Drei kleine Teufel mehr, die unseren Planeten verschmutzen und viel Arbeit machen.

Stimmt es, dass Sie inzwischen in Ihrer früheren Heimat Algerien Hühner züchten?

Ich betreibe eine Geflügelfarm. Ich weiß nicht, ob ich ins Detail gehen soll, die Deutschen sind ja sehr öko. Es sind hunderttausende Hühner, die auf dem lokalen Markt verkauft werden, ich kümmere mich um Produktion und Vertrieb. Die armen Hühner leben und sterben in der Legebatterie, sie sehen niemals das Tageslicht. Sie schmecken auch nach nichts. Das ist aber egal, da wir in Algerien viele Gewürze haben.

Ihr Humor war ein Grund, warum der Pariser Adelige Philippe Pozzo di Borgo Sie, einen Kriminellen aus der Banlieue, 1994 als Pfleger einstellte. Sie haben noch immer Kontakt.

Es ist eine Fortsetzung unserer Freundschaft. Philippe ist für mich Vater, Freund, Berater. Seine Kinder nennen mich tonton, Onkelchen, es ist sehr familiär. Wir besuchen ihn in Marokko, wo er mit seiner Frau und den beiden Adoptivtöchtern lebt, wir verbringen die Ferien dort.

Für einen Tetraplegiker, der seit einem Paragliding-Unfall vom Hals abwärts gelähmt ist, ist Pozzo di Borgo viel unterwegs. Er reist, tritt in Talkshows auf, gibt Interviews…

Manchmal denke ich, ich bin der Behinderte, weil er, im Gegensatz zu mir, ständig auf Achse ist. Früher scherzte ich: Tetraplegiker bewegen sich nicht, sie bleiben dort, wo man sie stehen lässt. Doch jetzt ist er es, der sich bewegt.

Er hat die Nachfolge des querschnittgelähmten Superman-Darstellers Christopher Reeve angetreten: als Prominenter, der die Sache der Behinderten in die Öffentlichkeit trägt.

Er hat die Mission, Behinderung überhaupt zu zeigen. Normalerweise haben die Leute große Angst vor Behinderungen, und sie unternehmen keine Anstrengung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Wobei es ja viele Behinderungen gibt, soziale, finanzielle, moralische. Auch ein Gestresster ist auf seine Art behindert.

Unternehmen Sie viel zusammen?

Wir sind jeder für sich, aber es passiert häufig, dass wir zusammentreffen, wie gerade bei Veranstaltungen in Belgien, Deutschland und Spanien. Er macht ungleich mehr, hat organisatorisch viel um die Ohren und schläft wesentlich weniger als ich.

Wie kam es zu dem Film, den in Frankreich fast 20 Millionen Leute gesehen haben?

Ein Journalist sah uns, als wir auf der Terrasse eines Cafés saßen. Er schlug vor, eine kurze Dokumentation zu machen, Philippe hatte gerade sein erstes Buch herausgebracht. Es gab eine zweite Doku, Ideen für ein Drehbuch, nur war das nie lustig oder liebenswert. Es ging immer um Mitleid, das wollte Philippe nicht. Dann kamen diese Filmer mit der irren Idee, eine Komödie über uns zu machen. Da denkt natürlich jeder, das geht nicht, man kann nicht über Behinderte lachen. Doch gerade der Humor, die Lebensfreude, die im Film rüberkommt, hat den Leuten die Augen geöffnet. Wenn man jetzt Behinderte sieht, denkt man: Der freut sich, lacht, atmet, hat ein Leben, Sex.

„Die Leute aus der Banlieue haben kein Mitleid“, heißt es im Film. Fiel Ihnen der Umgang mit Ihrem Chef leichter, weil Sie kein Mitleid hatten?

Seine Leute sagten: Der Kerl kommt aus dem Knast, er wird dich berauben, du kannst ihm nicht vertrauen. Aber Philippe ist ein Spieler, so wie ich. Er beurteilt Leute nicht nach ihrer Vergangenheit. Was ja eine Art Behinderung ist, eine soziale. Wenn man seinen Vorurteilen folgt, denkt, einer aus dem Knast wird ewig ein Verbrecher sein, heißt das auch: Ein Kranker muss immer ein Kranker bleiben. Philippe hat sich darüber hinweggesetzt.

Er hatte kein Mitleid mit Ihnen.

Als er eine „Hilfskraft als Intensivpfleger“ suchte, ging ich zum Bewerbungsgespräch, um einen Wisch fürs Arbeitslosengeld zu bekommen. Hätte er das Papier unterschrieben, hätte er zugestimmt, dass ich ein System ausnütze, zu dem ich nie etwas beigetragen habe. Es hat ihn amüsiert, wie ich daherkam. Ich war nicht wie die Bewerber vor mir, gut angezogen, gut frisiert. Die logen, die taten alles, um den Job zu bekommen. Ich war ehrlich, ich wollte nicht arbeiten. Und dann haben wir uns so gut amüsiert. Die zehn Jahre mit ihm gingen vorbei wie ein gutes Abendessen.

Erinnern Sie sich an den ersten Besuch im Hôtel de Longueuil, seinem Palais in Eiffelturmnähe?

Diese Welt kannte ich nur vom Einbrechen. Ich wusste, wie man sie durchs Fenster betritt und mit Wertsachen wieder verlässt. Ich hatte damals ein bewegtes Leben, es war das erste Mal, dass ich durch das Haupttor in ein solches Haus kam. Drinnen fühlte ich mich wie Ali Baba und die 40 Räuber. Es gab so viele Dinge, so viele Objekte, ich wusste nicht, was ich als Erstes mitnehmen sollte. Also ging ich mit gar nichts. Dazu kam, dass ich nichts über Tetraplegiker wusste. Als ich ihn das erste Mal sah, hat ihm eine Angestellte seine Zigarette angezündet. Ich dachte, wow, was für ein Bourgeois, der zündet sich nicht mal seine Zigarette selbst an. Ich wusste ja nicht, dass er sich nicht bewegen kann, für mich war Philippe ein Außerirdischer.

Pozzo di Borgo war Geschäftsführer des Champagnerherstellers Pommery, er ist adelig, reich. In gewisser Weise lebte er in einem Ghetto wie Sie.

In der Banlieue ist die einzige Aktivität, der man nachgehen kann, aus dem Fenster zu schauen. Und dort sehen Sie dasselbe Hochhaus noch mal. In Philippes Welt hingegen wissen die Leute nicht einmal, was draußen passiert, es würde ihnen auch Angst machen. Fragen Sie irgendeinen von denen, was ein Baguette kostet – er wird es nicht wissen. Das ist ein superarrogantes Milieu, das sich allen überlegen fühlt. Philippes Familie hatte Respekt. Ich war immer mit allen gemeinsam am Tisch, das ist in diesen Kreisen ja nicht üblich, da isst der Chauffeur draußen. Im Haus Pozzo di Borgo hatte jeder ein Recht auf seine Würde.

Was macht eine gute Freundschaft aus?

In der Banlieue lernte ich: Freundschaften scheitern, sobald es um Geld oder Frauen geht. Bei uns stand nichts dergleichen im Weg, es ist ein wechselseitiges moralisches Einverständnis, und das seit 20 Jahren, mehr als die Hälfte meines Lebens. So etwas ist sehr selten, es gibt kein Wort, das stark genug ist, um unsere Situation zu beschreiben.

Waren Sie in dieser Freundschaft gleichberechtigt?

Wir hatten nichts gemeinsam, nicht die Religion, nicht die Erziehung, nicht das Milieu, nicht die finanzielle Situation, nichts, nichts, nichts. Das ist, als würde es neben Tag und Nacht noch etwas Drittes geben. Aber wir hatten zwei Dinge, die uns einten: die Lebensfreude und der Respekt.

Filme leben von Unterschieden, die auf den ersten Blick unüberbrückbar erscheinen. Ist das der Grund für den Erfolg von „Ziemlich beste Freunde“?

Normalerweise geht man ins Kino, um für zehn Euro eine Weile zu träumen. In unserem Fall ist alles real, wir sind am Leben und können darüber reden. Das Ziel ist nicht, die Leute zum Träumen zu bringen. Denn was passiert, wenn sie rausgehen? Dann begegnen sie einem Behinderten und müssen einen Umgang mit ihm finden. Die meisten denken, Behinderung ist eine Sache der anderen, wie Aids. Aber selbst, wer nie einen Unfall hatte, nie krank war, kommt in den Zustand der Behinderung: Wenn er alt ist, Hilfe braucht. Das vergessen wir in unserem Egoismus gerne.

„Ich bin nur noch gegenwärtiger Schmerz“, schreibt Pozzo di Borgo in seinem Buch „Der zweite Atem“. Was hat ihm den meisten Schmerz bereitet?

Das Schlimmste war für ihn gar nicht, im Rollstuhl zu sitzen, sondern der Tod seiner Frau Béatrice. Das war die zweite Strafe. Die erste, der Unfall, schien nicht so furchtbar, so lange die Familie intakt war. Nur als seine Frau, seine Vertraute, seine Liebe, sein Leben, weg war, fühlte er sich wirklich allein. Er hatte oft Lust, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Er konnte nicht, er hatte ja zwei Kinder.

Sie hatten als Pfleger keine Probleme?

Für mich war das normal. Man hilft jemandem, weil er schwach ist. Wenn ich einen auf der Straße sehe, der angefahren wurde, gehe ich ja auch nicht weiter. Die schweren Dinge, die Körperhygiene, das Pflegen, nahmen eine Stunde am Tag in Anspruch. Der Rest war Lachen, Glück, Dummheiten.

Er nannte Sie seinen „Schutzteufel“.

Ich war Anfang 20, ein Kind, habe nur Blödsinn gemacht, seine Autos kaputtgefahren. Dass ich ihm Marihuana gab, war die einzige Möglichkeit, seine Schmerzen zu lindern. Ich wollte ihn beruhigen, und es hat funktioniert.

Im Film legen Sie sich mit einem Mann an, der unerlaubt am Behindertenparkplatz steht.

So ein Held war ich nie. Als Jugendlicher habe ich Kopien von Behindertenausweisen gemacht, mit denen man überall hinkam, und verkauft. Das war sehr dumm. Behinderte haben ohnehin nur ein kleines Territorium, wo sie überhaupt sein dürfen, wo sie halbwegs mobil sind.

Jeder, der schon mal in Paris mit Kinderwagen Metro fuhr, weiß: Es gibt nirgendwo Fahrstühle, Rampen oder Rolltreppen.

Ich sah mal das Gemälde eines Königs, da war neben ihm ein kleiner Mann, ein Deformierter. Ein Behinderter, aber er gehörte dazu. Später dachte man, Behinderte hätten kein Recht zu leben. Man hat sie versteckt, an die Metro dachte keiner. Heute ist die Situation besser als vor zehn Jahren, und in zehn Jahren wird sie noch besser sein.

Haben Sie sich tatsächlich von Prostituierten die Ohren streicheln lassen wie im Film?

Stellen Sie sich vor, Sie fühlen nichts an Ihrem Körper – wie würde es Sie trösten, wenigstens Ihre Ohren zu spüren! Philippe könnte man mit einem Messer stechen, er spürt nichts unterhalb des Halses. Doch es kamen keine Prostituierten, und schon gar nicht zu uns beiden. Wir haben die Intimität des anderen respektiert, das war streng getrennt. Was es schon gab, waren Freundinnen. Philippe ist ein Mann, der gerne lacht und mehr redet, wenn eine Dame dabei ist.

Ihre Kumpels aus der Banlieue dürften Ihren Job nicht gerade cool gefunden haben.

Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, ich habe die Jungs sogar zu Philippe mitgenommen. Die haben dort geraucht, sich bei Partys die Kante gegeben, Philippe fand das superlustig. Meine Kumpels haben mich beneidet.

In Ihrem Buch schreiben Sie, Philippe habe „einen Menschen aus mir gemacht“.

Wenn ich Ihnen vor 20 Jahren gegenüber gesessen hätte, wäre Ihre Handtasche nicht mehr hier. Ich habe alles geklaut, was ich kriegen konnte. Mir war alles egal, was passieren könnte, meine Kumpel und ich dachten nur an uns und wie wir von der Schwäche anderer profitieren könnten.

Trost fand Philippe in der Kunst. Konnte er Sie mit seiner Leidenschaft anstecken?

Vor 14 Tagen habe ich das erste Mal meinen Hintern in ein Museum bewegt, in den Prado in Madrid. Ich hatte immer einen Horror vor Bildern und Skulpturen, in denen ich nichts erkennen konnte. Aber dann diese Gemälde aus dem 17. Jahrhundert, Landschaften, Leute, Tiere, so detailgenau, wie fotografiert. Ich war hin und weg. Mit moderner Kunst habe ich bis heute nichts am Hut, das ist ein ständiger Streitpunkt zwischen Philippe und mir. Er sagt, das ist Kunst, ich sage, das sind Flecken.

Ist es wahr, dass Sie, bevor Sie zu Philippe kamen, noch kein Buch gelesen hatten?

Das erste Buch, das ich las, war sein Manuskript.

Sie haben dann selbst ein Buch geschrieben, es heißt „Einfach Freunde“.

Ich hatte das immer abgelehnt. Nach dem Film habe ich zugestimmt, es war die einzige Möglichkeit, eine Spur der Dankbarkeit zu hinterlassen.

Denken Sie, hätten Sie das alles auch ohne Philippe geschafft?

Sage ich Ja, hieße das, ich hätte meine Zukunft gekannt. Sage ich Nein, heißt das: Alle, die aus der Banlieue kommen, sind verloren. Das ist nicht wahr. Jeder kann da raus, mit seinen eigenen Mitteln.

Vom früheren französischen Präsidenten Sarkozy stammt der umstrittene Satz, man müsse die Banlieues „mit dem Kärcher reinigen“.

Das war eine harte Formulierung. Doch stellen Sie sich vor, Sie arbeiten Ihr ganzes Leben, um sich ein Auto zu kaufen, und dann kommt so ein kleiner Drecksack, wie ich früher einer war, und stiehlt es Ihnen. So wie ich ihn verstand, wollte Sarkozy die Kriminalität aus der Banlieue entfernen. Ich war bei ihm eingeladen, habe mit ihm gegessen. Er schien mir ein normaler Mann zu sein, der nicht in einer Stadt leben will, wo drei oder vier Idioten ein ganzes Viertel ruinieren können.

In den vergangenen Jahren gab es Unruhen in der Banlieue. Verstehen Sie die Wut der jungen Leute, die keine Arbeit, keine Ausbildung finden, nur weil sie Araber, Afrikaner sind?

Man findet Arbeit in Frankreich, wenn man nicht bis 12 Uhr pennt. Sicher gibt es Leute in der Banlieue, die keinen Job finden, wegen ihres Namens, wegen der Vorurteile. Man muss nur aufhören, sich dafür zu bemitleiden, dass man aus der Banlieue kommt. Einer, der in der Banlieue lebt, hat denselben Körper, denselben Kopf wie einer, der im Zentrum lebt.

Der französische Rapper Mc Solaar nannte die Banlieue die Hölle, der man sein eigenes Paradies entgegensetzen muss. Sie sind das beste Beispiel dafür.

Ich bin immer wieder mit Behindertenorganisationen in den Vororten, um den Leuten die Augen zu öffnen. Die gratulieren mir, dass ich der Banlieue ein neues Image gebe, dass es nicht nur die stehlende, hässliche Banlieue gibt. Und 99 Prozent der Leute in der Banlieue leben relativ normal. Der Film zeigt, dass auch einer aus dem Knast etwas Positives erreichen kann.

„Die große Überraschung dieses Films ist, dass er wahr ist“, schrieb „Le Monde“. Haben Sie eine Art französischen Traum gelebt?

Ich habe nie geträumt. Ein Traum hieße ja: So etwas ist möglich. Wer rechnet damit, dass er eines Tages weltberühmt ist, bewundert, interviewt wird? Das ist so, als würden Sie sagen, morgen gehe ich auf dem Mond spazieren.

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