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Kultur: Kleinbürger, Künstlerfürst, Kaiser

Ein-Mann-Welttheater: der Berliner Maler Johannes Grützke im Germanischen Nationalmuseum.

Fuchs und Hase, friedlich vereint. Ein Affe entblößt drohend seinen Hintern. Das junge Wildschwein wendet sich ab, zur Flucht bereit. Ihre Revier- und Futterkämpfe haben die Tiere hinter sich, sie sind ausgestopft. Vereint zu einem kleinen utopischen Zoo stehen die Präparate, jedes ein perfektes Kunstwerk für sich, normalerweise auf einem Regal im Wilmersdorfer Atelier von Johannes Grützke. Derzeit aber sind sie auf einem Sims im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg zu sehen, das den Berliner Künstler mit der ersten umfassenden Retrospektive seines Gesamtwerks ehrt. Grützke gilt zwar vor allem als Maler, er ist aber auch Bildhauer, Dichter, Redner, Musiker, Schauspieler, Bühnen- und Kostümbildner, kurz: ein lebendes Gesamtkunstwerk.

Seine Malerei ist virtuos, aber man muss ihr misstrauen. Denn der Schein kann trügen. Auf den ersten Blick mag ein Bild wie „Hase an der Zeitung“ aus dem Jahr 2003 bloß wie ein brillantes, pastos gemaltes Stillleben wirken. Doch darin steckt mehr, ein Spiel der Gedanken und Verweise. Zu sehen ist der Hase aus Grützkes Werkstatt neben einer aufgeschlagenen Zeitung und den ausgelatschten alten Sportschuhen des Malers. Ein klassisches Vanitas-Motiv. Alles ist vergänglich, die Nachrichten aus der Zeitung, Hase, Schuhe, selbst Maler und Betrachter. Oder kann die Kunst die Zeit aufhalten, den Verfall stoppen, so wie der Präparator bei dem Tier?

Gegen die Behauptung, er sei bloß Abbilder der Wirklichkeit, ein Realist, hat Grützke sich immer verwahrt. In seiner Malerei gehe es weniger um Gegenständlichkeit als um „Gedankenkunst“. Als er 1968 ein vermeintliches Agitprop-Gemälde mit dem Titel „Benno Ohnesorg greift zum Gewehr“ schuf, wurde er flugs den „kritischen Realisten“ zugerechnet. Dabei zeigt das Bild gar nicht den erschossenen Studenten, sondern Grützke selbst, der, eingeschlossen von Männern mit maskenhaften Gesichtern, ein Gewehr aus dem Kofferraum eines Straßenkreuzers zieht. Ein Aufruf zur Revolution? Eher ein Rollenspiel.

Eindeutigkeit ist aber nicht seine Sache. Seinen Studenten habe er immer gepredigt: „Wir brauchen niemandem etwas beibringen, weil das ja voraussetzen würde, dass wir etwas besser wissen. Der Besserwisser ist etwas Furchtbares.“ Zehn Jahre lang, bis 2002, hatte Grützke eine Professur an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. So kam auch der Kontakt mit dem Germanischen Nationalmuseum zustande, dem der Künstler – im Herbst wird er 75 – bereits zu Lebzeiten seinen Nachlass vermachte.

Dazu gehören Skizzen, Manuskripte, Briefe, Bücher, Zeitungstexte sowie Bild- und Tondokumente von Grützkes Auftritten als „Erlebnisgeiger“ oder als Kleindarsteller in Filmen wie „Die flambierte Frau“ oder „Otto – Der Film“. In Kombination mit den Gemälden und nach sieben thematischen Schwerpunkten geordnet – von Männer- und Frauen-Bildern über Theaterentwürfe bis zu den Performances – fügen sie sich zu einem beeindruckenden, höchst unterhaltsamen Rundgang durch ein Lebenswerk, in dem sich Kultur- und Zeitgeschichte vielfach spiegeln. Im Zentrum steht ein stilisierter Nachbau des legendären Ateliers in der Güntzelstraße, in dem Grützke, der Zaungast der Revolte, seit 1968 arbeitet.

Hier stehen Fuchs, Hase und Gans auf dem Sims, darunter hängen einige Stillleben, auf denen Grützke sie ins Bild gesetzt hat. Fast glaubt man, ihm beim Malen über die Schulter zu schauen. Ebenfalls aus dem Atelier stammen ein paar Zeichnungen und Grafiken von Max Klinger, Emil Orlik und Ludwig Meidner, mit denen sich der Maler in die Tradition einer gemäßigten Moderne stellt. Nur Grützkes Hausgott Adolph Menzel fehlt, den er als „Erfinder der Allesmalerei“ verehrt. Grützke erklärte sich schon früh zum „Klassiker“ und posierte auf Fotos wie ein Malerfürst des Fin de siècle im Morgenmantel neben einem nackten weiblichen Model. Provokationen, die ihn im Kunstbetrieb der sechziger und siebziger Jahre, der die Malerei totgesagt hatte, zum Außenseiter machten.

Von Grützke dürfte es mehr Selbstporträts geben als von fast jedem anderen zeitgenössischen Künstler. In Nürnberg sind mehr als ein Dutzend zu sehen, darunter auch eine weißglasierte Tonskulptur mit dem selbstkritischen Titel „Großer pathetischer Kopf auf faltenreichem Hals“. Die Selbstporträts wirken wie Studien eines Ein-Mann-Theaters, in denen Grützke Gesten, Stimmungen und Haltungen durchprobiert. Auch auf seinen großformatigen Historiengemälden ist er ímmer wieder präsent. Auf „Unser Fortschritt ist unaufhörlich“ taumelt er lachend mit einem Spielzeugflugzeug in der Hand durch einen Wolkenhimmel. Bei einer „Darstellung der Freiheit“ steigt er gleich in doppelter Ausführung einer allegorischen Frauenfigur hinterher, aus deren Handtasche Schminkutensilien fallen. Konsum- und Ideologiekritik. Der Kleinbürger in Angestelltenuniform, den der Maler verspottet, ist er selber.

Bald danach beginnt Grützke, sich mehr mit der Körperlichkeit seiner Figuren, mit ihrer Plastizität und Hautbeschaffenheit zu beschäftigen. Er türmt Aktdarstellungen zu waghalsigen, barock anmutenden Tableaus und gibt ihnen halb ironische Titel wie „Theater der Freundschaft“ oder „Die Befreiung der Frau durch die Frau, dargestellt von Vera Lier“. Seine „Fünf nackten Männer“ machen 1972 Schlagzeilen, weil sie nach Protesten aus einer Ausstellung im Bonner Bundestag entfernt werden. Grützke steigt trotzdem zum Beinahe-Staatskünstler auf und gewinnt 1987 den Wettbewerb zur Gestaltung der Wandelhalle in der Frankfurter Paulskirche. Auf seinem Rundbild – in Nürnberg in einer Linolschnittfolge zu sehen – ziehen die Parlamentarier von 1848 dem Sarg ihres erschossenen Kollegen Robert Blum hinterher. Ein Kreislauf der Vergeblichkeit.

Einst hat Grützke für Friedrich II. geschwärmt und mit Künstlerfreunden neben der „Schule der Neuen Prächtigkeit“ auch die „Neupreußische Empfindungsgesellschaft“ gegründet. Später forderte er in einem Interview mit den „Nürnberger Nachrichten“ die Rückkehr zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation: „Dann will ich Kaiser werden.“

Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, bis 1. April. Der Katalog kostet in der Ausstellung 28,50 € , im Buchhandel 38 €.

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