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Kultur: Kleine Haie, große Liebe

Das Original: die „West Side Story“ in der Deutschen Oper Berlin

Im Grunde, so sagte der Regisseur Billy Wilder einmal, gibt es auf der ganzen Welt eine Handvoll unterschiedlicher Geschichten. Alle anderen sind nur Variationen eben dieser archaischen Plots. Diese Jahrtausende alten Erzählungen sind gewissermaßen das Skelett aller Mythen, Epen, Dramen oder Filmen.

Die Legende von Anton und Maria ist so ein Stoff. Maria liebt Anton, Anton liebt Maria. Weil sie aber verschiedenen Kulturkreisen entstammen, muss erst Blut fließen und bevor der Hass ihrer Umwelt besiegt wird, vielleicht, müssen die Liebenden erst ein schlimmes Blutopfer bringen. Der Choreograf Jerome Robbins schrieb die Geschichte in den Fünfzigerjahren für den Broadway auf. Gefunden hatte er sie bei Shakespeare, der sie auch irgendwo abgeschrieben hatte – wahrscheinlich vom Leben selbst.

Der Legende nach hatte ein Schauspieler namens Montgomery Clift den Choreografen angefleht, ihm beim Rollenstudium für „Romeo und Julia“ mit der Darstellung des Romeo zu helfen, Der Typ war ihm schlicht „zu passiv“. Robbins vertiefte sich in den alten Stoff. Das Szenario der verfeindeten Familien verlegte er in die Lower West Side von Manhattan. So wurden aus den Montagues und Capulets kurzerhand die Jugendgangs „Sharks“ und „Jets“. Robbins bat den Komponisten und Chef der New Yorker Philharmoniker Leonard Bernstein um Hilfe. Der übersetzte die Tragödie in Melodien. Das Musical, das 1957 im Winter Garden Theatre Premiere hatte, ist seither einer der Klassiker des Genres, weltberühmt auch durch die Verfilmung von 1961.

Seitdem ist die Geschichte unzählige Male auf die Bretter gekommen. Die originale Choreografie von Jerome Robbins aber bekommt man nur selten zu sehen, weil der Robbins Right Trust weltweit nur drei Regisseuren erlaubt, das Original einzustudieren. Joey McKneely, dessen gefeierte Version nun in der Deutschen Oper gastiert, ist einer von ihnen.

Unter einem raffinierten Gerüst aus den berühmten Feuerleitern (Bühnenbild: Oliver Smith) umkreisen sich – zunächst spielerisch – die Jugendbanden in ihrem katzenhaften Imponiertanz voller unterdrückter Kraft. Die puertoricanischen „Sharks“ und die schon länger amerikanisierten „Jets“ hat McKneely ethnisch korrekt besetzt: Die Rolle der Anita spielt stimmgewaltig die dunkelhäutige Lana Gordon („Tommy“), überwiegend blond dagegen kommen die „Jets“ daher.

Deren harten Leader of the Pack namens Riff gibt hier Karl Wahl, mehr körper- als stimmgewandt. Ohne Längen tanzen und singen sich die gegnerischen Halbwüchsigen in Rage, der bemühte Sozialarbeiter bleibt da eine Shakespeare’sche komische Figur. Die als Antikonflikttraining organisierten Kennenlernspielchen zwischen den ethnischen Gruppen schlagen fehl. Der harmlose Mambo – eine der stärksten Tanzszenen dieser Aufführung – wird zum ritualisierten Kampftanz, die Mambo-Rufe während der kurzen Breaks sind energiegeladene Kampfschreie. Während die Tanzpaare in einem sich langsam blutrot färbenden Unheilshimmel versinken und Tony zu Maria (großartig: Laura Griffith) findet, nimmt die Tragödie ihren Lauf. Fäuste, Knüppel, Messer, Pistolen – am Ende liegen Tote auf der umkämpften Straße. Vorher aber singt Sean Attenbury Liebeslust und -schmerz des Tony, und das wunderbare „Tonight“-Duett der Balkonszene vor ein paar aufdimmenden Sternen in Broadway-Manier kann Steine erweichen.

Kitsch oder Nicht-Kitsch: Das ist hier keine Frage. Die Geschichte der Kämpfe zwischen ethnischen (Jugend-)Gruppen hat nicht an Aktualität verloren. Als Global Story könnte sie heute ebenso gut in Neukölln, Sarajewo oder Bagdad spielen. McKneelys Inszenierung leistet sich als Freiheit eine weiße Traumszene, bleibt aber sonst eine der archaischen Geschichten aus dem Kanon Billy Wilders. Der übrigens hatte stets einen Block auf dem Nachtisch, falls ihm einmal eine noch nie erzählte Geschichte einfallen sollte. Eines Nachts hatte er einen solchen Geistesblitz. Am nächsten Morgen las er auf seinem Zettel diesen Plot: Boy meets Girl.

Bis 5. 9. in der Deutschen Oper.

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